Straftäter kommen wegen überlasteter Gerichte auf freien Fuß
Mutmaßlicher Mörder aus U-Haft entlassen – Anwältin: "Schlag ins Gesicht der Opfer"
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von Sebastian Stöckmann und Klaus Felder
Den Bewohnern Büdingens lief es eiskalt den Rücken hinunter, als die Nachricht die Runde machte: In der hessischen Stadt soll ein Mörder frei herumlaufen. Dabei saß Ralf H. schon in Untersuchungshaft – doch weil ein Schöffe erkrankte, ließ das Gericht den Prozess gegen ihn platzen und setzte H. auf freien Fuß. Bei weitem kein Einzelfall: Nach RTL-Recherchen werden in Deutschland jedes Jahr dutzende mutmaßliche Straftäter aus der U-Haft entlassen. Rechtsanwältin Sandra Buhr fordert, die Opfer besser zu schützen. Etwa, indem Ersatzschöffen für den Fall der Fälle bereitgestellt werden.
Höchstens sechs Monate Untersuchungshaft in Deutschland
Maximal sechs Monate darf die Untersuchungshaft in Deutschland dauern. Durch richterlichen Beschluss kann sie verlängert werden, wenn wichtige Gründe dafür vorliegen. Doch die rechtlichen Hürden dafür sind hoch – die Folge: Immer wieder müssen Gerichte mutmaßliche Straftäter freilassen, weil Strafverfahren zu lange dauern und eine noch längere U-Haft nicht zu rechtfertigen wäre.
Ralf H. soll Alojzij Zitnik (79) nach Streit getötet haben
So auch im Fall von Ralf H.: Im Januar 2021 soll er Alojzij Zitnik (79) nach einem Streit "aus Habgier und Heimtücke" getötet haben – so wirft es ihm die Staatsanwaltschaft vor. Die Leiche des den 79-Jährigen wurde nie gefunden, doch die Ermittler sind sich sicher, dass Ralf H. den Frankfurter in einen Hinterhalt lockte, tötete und die Leiche an einen unbekannten Ort brachte.
Schon 15 Monate lief der Prozess gegen den Büdinger. Doch nach Bekanntwerden der Erkrankung des Schöffen sagte das Landgericht Hanau den Prozess ab und will ihn neu aufrollen. Ralf H. kam – wenn auch unter Auflagen – frei und soll laut Nachbarn wieder im Büdinger Stadtteil Orleshausen leben.
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Anwältin fordert Recht auf Ersatzschöffen für Opfer
"Für die Opfer ist das ein Schlag ins Gesicht", sagt Rechtsanwältin Sandra Buhr. "Man bereitet sich emotional auf einen Prozess vor und ist froh, wenn alles einen Abschluss findet. Dann erfährt man, dass ein Prozess platzt, weil ein Schöffe erkrankt ist – und muss die ganze bereits aufgebrachte Kraft in einem neuen Prozess noch mal aufbringen."
Dabei gäbe es eine einfache Lösung für solche Fälle: Opfer sollten vom Gericht verlangen können, Ersatzschöffen in der Hinterhand zu haben, findet die Anwältin. "Das wäre ein wichtiges Zeichen, weil Opfer auf die juristische Aufarbeitung hinfiebern. Es ist für sie eine unglaubliche seelische Belastung, wenn ein Prozess beginnt." Außenstehende könnten dies nur schwer nachvollziehen. "Man wacht morgens damit auf und geht abends damit ins Bett."
Verhindern lassen sich Fälle wie der am Landgericht Hanau allerdings nicht. "Es sollte nicht vorkommen, dass Vergewaltiger, Mörder, Schwerstkriminelle aufgrund eines Verfahrensfehlers erst mal auf freien Fuß kommen. Das ist sicher nicht, was ein Opfer hören möchte, und es ist auch nicht das Ansinnen der Gerichte", sagt Sandra Buhr. "Aber unsere Gerichte sind teilweise derart überlastet, dass es zu solchen Ausnahmesituationen kommt."
Jedes Jahr dutzende Verdächtige wegen zu langer Verfahren aus U-Haft entlassen
Auch der Deutsche Richterbund (DRB) sieht in der Überlastung der Strafjustiz die Ursache dafür, dass sich Verfahren vor deutschen Gerichten zunehmend in die Länge ziehen. Und die Zahlen sind alarmierend: Im Jahr 2021 dauerten erstinstanzliche Strafverfahren vor den Landgerichten im Schnitt 8,2 Monate – fast zwei Monate länger als zehn Jahre zuvor und ein neuer Höchstwert. Gerechnet ab dem Eingang bei der Staatsanwaltschaft, dauern erstinstanzliche Verfahren beim Landgericht im bundesweiten Durchschnitt inzwischen sogar 21 Monate. Bei den Amtsgerichten ist der Trend ähnlich: Vom Verfahrensbeginn bis zum Urteil vergingen 2021 durchschnittlich 5,8 Monate.
Entsprechend schießt die Zahl derer in die Höhe, die zum Teil schwerer Straftaten beschuldigt werden, aber nicht in U-Haft bleiben dürfen: Laut DRB sind in den letzten fünf Jahren in Deutschland fast 300 Tatverdächtige wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Allein im Jahr 2021 hat die Justiz nach Recherchen der Deutschen Richterzeitung bundesweit mindestens 66 Tatverdächtige wieder auf freien Fuß gesetzt, weil deren Strafverfahren zu lange gedauert haben. Ein deutlicher Anstieg zu 2020, als die Länder 40 Fälle meldeten.
Büdingen: Enzsetzen über Freilassung des mutmaßlichen Mörders Ralf H.
"Angesichts stetig wachsender Aufgaben für die Justiz kann eine Trendwende nur mit mehr Personal gelingen", sagt DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Zudem würden Strafverfahren immer aufwändiger – nicht zuletzt, weil immer mehr Daten aus der digitalen Welt ausgewertet werden müssten. Die Bundesregierung müsse "endlich konkrete Vorschläge auf den Tisch legen, wie sie die Neuauflage des Bund-Länder-Pakts zur Stärkung der Justiz ausgestalten will", fordert Rebehn.
Den Menschen in Büdingen hilft das im Moment alles nichts. Auch nicht, dass sich Ralf H. zweimal pro Woche bei der Polizei melden muss. Sie haben einfach nur Angst. Angst, dass jemand, der wohl schon einmal getötet hat, erneut zuschlägt.