Klaffende Bildungsschere durch Corona
Werden ärmere Kinder in der Schule jetzt komplett abgehängt?
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von Rachel Kapuja
Wie geht es mit der Schule weiter? Darüber wird gerade heiß debattiert. Während etwa Schleswig-Holstein schon nächste Woche die Grundschulen wieder öffnen will, sind andere Bundesländer zurückhaltender und bleiben zunächst beim eingeschränkten Regelbetrieb mit tage- oder stundenweisem Unterricht. Doch egal wie, es stellt sich die Frage: Finden überhaupt alle Kinder und Jugendliche nach so vielen Wochen noch den Anschluss? Schließlich war das Homeschooling nicht für alle gleich – und das hat nicht zuletzt etwas mit Geld und sozialem Status zu tun.
Im Video erklären eine alleinerziehende Mutter und Experten, warum die lange Zeit ohne Schule und Kita weitreichende Folgen hat.
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„Bildung in Zeiten von Corona wird zum Luxus“
300 Euro Bonus soll jede Familie pro Kind bekommen, wie die Große Koalition jetzt in ihrem Corona-Konjunkturpaket beschloss. Doch für viele dürfte das nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Denn während das monatelange Homeschooling auch besser aufgestellte Familien schon an ihre Belastungsgrenzen gebracht hat, sind die Folgen für Kinder von erwerbsschwächeren Eltern oft fatal.
Schließlich fingen die Probleme schon bei der Ausrüstung an: „Natürlich war es jetzt auch zu sehen, dass die Kinder, die zu Hause die digitalen Möglichkeiten nicht haben, den Angeboten gar nicht folgen können. Wenn ich mit zwei oder drei Geschwistern am Küchentisch sitze und vielleicht nicht mal WLAN habe, funktioniert das Lernen natürlich ganz anders“, so Holger Hoffmann, Geschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks, zu RTL.
Auch die Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Uni Hamburg mahnt in einer Stellungnahme: „Während in manchen Familien jedes Mitglied über einen eigenen Laptop verfügt, ist in anderen überhaupt keiner vorhanden. Bildung in Zeiten von Corona wird so für eine Vielzahl von Kindern, Jugendlichen und Familien zum Luxus, was sie in einer Demokratie wie Deutschland nicht sein sollte.“
Beengte Wohnverhältnisse und Bewegungsmangel
Und der Mangel an finanziellen Mitteln ist nur ein Aspekt eines vielschichtigen Problems. Auch die Isolation in beengten Wohnverhältnissen trägt ihren Teil bei. Bernd Siggelkow, Gründer des Kinder- und Jugendwerks Arche e. V., erklärt RTL: „Wir haben teilweise 80 Quadratmeter, da wohnen acht Menschen. Dann wird es wärmer, als Mutter gehen einem die Ideen aus: Was kann ich mit meinen Kindern machen? Und dann der Druck durch die Schule.“
Viele Kinder und Jugendliche hätten wochenlang das Haus nicht verlassen, sich kaum bewegt und dadurch ordentlich zugenommen. Hier versucht die Arche, mit Mobilitätsangeboten wie Fahrrädern oder Inline-Skates entgegenzuwirken.
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Überforderung durch Sprach- und Bildungsbarrieren
Hinzu kommen Sprach- und Bildungsbarrieren. Es sei bekannt, dass sprachliche Fähigkeiten in der „Sprache der Schule“ – also Deutsch – ausschlaggebend für Bildungserfolg sind, und dass Kinder und Jugendliche, die in sozial prekären Lagen aufwachsen, schlechtere Chancen haben, sich diese anzueignen, so die Erziehungswissenschaftler der Uni Hamburg. „Sowohl für SchülerInnen als auch für die betroffene Generation der Kita-Kinder bedeutet die Krise, dass der Zugang zur ‚Sprache der Schule‘ derzeit stark eingeschränkt ist und es auf absehbare Zeit bleiben wird.“
Bernd Siggelkow berichtet von einer großen Unsicherheit, mit der die Familien allein gelassen werden: „Viele unserer Eltern sind aus der bildungsfernen Schicht. Die meisten alleinerziehenden Mütter haben drei, vier, fünf Kinder, das heißt, sie müssen den Unterricht von der ersten bis zur fünften Klasse übernehmen.“ Auf Unterstützung durch die Schule könnten sie nicht hoffen: „ Viele Lehrer haben sich teilweise sechs Wochen lang nicht bei den Kindern gemeldet und auch nicht gefragt: ‚Wie kann ich dir jetzt als Mutter helfen, deine Kinder zu unterrichten?‘“
Das Team der Arche versucht, diesen Kindern per Online-Hausaufgabenhilfe unter die Arme zu greifen. Bei Hausbesuchen bringen die Betreuer neben Lebensmitteln auch moralische Unterstützung mit, „weil da natürlich auch viel kaputt ist in den Familien – die sind 24/7 mit ihren Kindern zusammen, das ist schon eine ziemliche Überforderung.“ Laut Siggelkow hat sich die Arbeit der Arche in den letzten Wochen verdreifacht.
Schule bedeutet für Kinder mehr als nur Unterrichtsstoff
Die Experten der Uni Hamburg warnen davor, die positiven Effekte von Schule und Kita neben der reinen Wissensvermittlung zu vergessen: Für viele benachteiligte Kinder bedeuten sie Geborgenheit, Schutz, ein warmes Mittagessen, eine Tagesstruktur sowie die Wertschätzung und Anerkennung durch Lehrer und Mitschüler.
„Kinder und Jugendliche brauchen auch die anderen, weil sich darüber erst ein soziales Verhalten entwickeln kann, das sich zu Hause so gar nicht ausprägen kann,“ erklärt Holger Hoffmann vom Kinderhilfswerk - nur ein Grund, weshalb er für eine schnellstmögliche umfassende Öffnung der Schulen plädiert.
Corona-Krise als Vergrößerungsglas für Probleme
Auch Dr. Ilka Hoffmann, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), ist das Problem der Bildungsschere, die ohnehin viel zu groß ist, bewusst: „Wir hatten vorher schon den Umstand, dass Kinder, die zu Hause gefördert werden, in der Schule einen größeren Erfolg hatten. Jetzt sehen wir das wie durch ein Vergrößerungsglas“, sagt sie RTL im Interview.
Dies hat ihrer Meinung nach auch etwas Positives: „Das ist insofern gut, dass dieses Problem jetzt auch verstärkt bei der Politik ankommt.“ Diese habe jetzt erst einmal Geld zur Verfügung gestellt, um benachteiligte Kinder und Jugendliche mit Endgeräten zu versorgen.
„Wo wir jetzt noch nachsteuern müssen, ist zu schauen: Welche Unterstützung brauchen diese Familien noch zusätzlich? Ist es jetzt wichtiger, Klassenarbeiten zu schreiben oder diejenigen zurück in die Schule kommen zu lassen, die tatsächlich den Kontakt zu den Lehrkräften brauchen?“ Hier müsste der Fokus verschoben werden, findet Hoffmann.
Wenn die richtigen Lehren gezogen werden, könnte die Krise eine Chance sein. „Ein wichtiger Schritt ist, dass die Politik sagt: Gerechtigkeit im Schulwesen, der Abbau von sozialer Benachteiligung, das setzen wir auf die Top-Agenda.“
Gemeinsam gegen Corona - gemeinsam für Kinder
Unzählige Kinder in Deutschland sind direkt und indirekt von dem Coronavirus betroffen und können weder regulär zu Schule gehen, noch Betreuungseinrichtungen wie die RTL-Kinderhäuser besuchen.
Gerade in sozialen Brennpunkten ist für viele eine sinnvolle Beschäftigung zu Hause nicht möglich. Auch schwerst behinderte und lebensverkürzt erkrankte Kinder, die im mobilen Pflegedienst gepflegt werden, brauchen jetzt verstärkt unsere Unterstützung.
Helfen Sie mit Ihrer Spende! Alle Infos finden Sie auf der Seite zu unserer Aktion „Gemeinsam gegen Corona – gemeinsam für Kinder.
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