Es gab schon Vorschläge für Inzidenz-Alternative

Warum hört die Politik nicht auf ihre eigenen Experten?

ARCHIV - 27.07.2021, Niedersachsen, Hannover: Eine Mitarbeiterin des Testzentrums am Platz der Weltausstellung hält einen Teststab für einen Schnelltest auf das Coronavirus in ihren Händen (gestellte Szene). Im Zuge der immer stärkeren Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus hat sich die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland innerhalb eines Monats etwa vervierfacht. (zu dpa «Delta lässt Corona-Inzidenz steigen - bislang wenig schwere Verläufe») Foto: Moritz Frankenberg/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ein interner Plan zur Abkehr von der Inzidenz als einziger Parameter lag schon in der Schublade
mof kde vco, dpa, Moritz Frankenberg

Wochenlange Diskussionen um Inzidenz-Alternativen und dann das: Nach der Bund-Länder-Konferenz war die Enttäuschung groß. Außer vagen Absichtserklärungen konnten sich Kanzlerin Merkel und die Länder-Chefs nicht auf andere Pandemie-Parameter einigen. Doch ein internes Papier der Bundesländer und des RKI zeigt: Schon seit zwei Wochen gibt es einen Plan für eine Inzidenz-Alternative! Warum hören unsere Politiker eigentlich nicht auf ihre eigenen Experten?
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So sieht der interne Corona-Masterplan aus

Das Papier stammt aus der Sondereinheit „Strategiewechsel“ der Arbeitsgruppe Infektionsschutz der Länder „unter Beratung des RKI“ und ist auf den 29. Juli datiert, also knapp zwei Wochen vor der Ministerpräsidentenkonferenz. Zuerst hatte der Business Insider darüber berichtet. Neben der Inzidenz sollen auch zwei andere Faktoren berücksichtigt werden, um „die gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen einer vierten Infektionswelle der COVID-19 Pandemie so weit wie möglich eingedämmt werden“, heißt es. Ausgangslage sei die „Erwartungshaltung der Bevölkerung für sehr weitreichende Öffnungen“

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Neue Faktoren für Maßnahmen: „Seismograf“, „Schutzwert“ und „Belastungswert“

Die 7-Tage-Inzidenz gilt laut dem Konzept als „Seismograf“, der die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus wiedergeben soll. Die 7-Tage-Hospitalisierungsinzidenz zeigt schwere Verläufe an und wird als "Schutzwert für die Krankheitslast" definiert. Der Anteil der Corona-Fälle an den Intensivstationen-Kapazität gilt als „Belastungswert für die Auslastung des Gesundheitssystems“.

So sehen die Warnstufen des internen Papiers aus
So sehen die Warnstufen des internen Papiers aus
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Verschiedene Warnstufen vorgesehen

Lockerungen sollen laut dem Konzept erst dann zurückgenommen werden, wenn bei mindestens zwei der drei Indikatoren die Kriterien für die jeweilige nächste Warnstufe erfüllt sind. Die Warnstufe zwei gilt beispielsweise, bei einer Inzidenz zwischen 101 und 200 und sieben bis zwölf Schwerkranken pro 100.000 Einwohner. Warnstufe drei würde dementsprechend bei einer Inzidenz über 200 und bei mehr als zwölf Schwerkranken pro 100.000 Einwohnern oder einem Anteil von mehr als zwölf Prozent Corona-Erkrankter auf den Intensivstationen gelten. Dann müssten Lockerungen zurückgenommen werden. Eine Verschärfung könnte laut dem Papier zum Beispiel sein, dass Ungeimpfte nicht mehr in Innenräume von Restaurants dürften – aus 3G würde also 2G.

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Lag das Papier den Politikern gar nicht vor?

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte sich enttäuscht darüber gezeigt, dass man sich nicht auf neue Maßstäbe abseits der Inzidenz geeinigt hatte: „Ich hätte mir eine präzisere Vorbereitung dieses schwierigen Punktes gewünscht", sagte er diplomatisch.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ging sogar noch einen Schritt weiter: „Alle waren willig, darüber zu diskutieren, aber wenn wir ganz ehrlich sind, so ein richtiges Konzept, wie man das macht, war nicht wirklich da.“

Jetzt setzen die Bundesländer ihre eigenen Pläne um.

Warum aber wurde kein Masterplan auf Grundlage des jetzt veröffentlichten Papiers verabschiedet? Warum blieb es nur bei unkonkreten Absichtsformulierungen? Bei den Äußerungen von Weil und Söder liegt der Verdacht zumindest nah, dass die Vorschläge den Entscheidern gar nicht vorlagen. Eine Anfrage bei der bayerischen Staatskanzlei blieb am Abend unbeantwortet.

Bundesgesundheitsministerium sieht Handlungsbedarf

Der Business Insider schreibt, aus Kreisen des Gesundheitsministeriums werde auf die Zuständigkeit der Ministerpräsidentenkonferenz verwiesen, doch innerhalb des Hauses von Jens Spahn (CDU) sehe man durchaus auch Handlungsbedarf in den eigenen Reihen – vor allem, wenn man an entsprechenden Alternativ-Konzepten bereits mitgearbeitet hat.