Amoklauf in Hamburg-Alsterdorf
Ein Jahr nach Blutbad bei Zeugen Jehovas - „Die Erinnerung ist präsenter denn je"

Um kurz nach 21 Uhr bricht im Haus Gottes die Hölle los!
134 Schüsse feuert Philipp F. am 9. März 2023 in den Gemeindesaal der Zeugen Jehova in Hamburg-Alsterdorf und tötet dabei sechs Menschen und ein ungeborenes Baby im Mutterleib. Mit dem nächsten Schuss richtet er sich selbst. Ein Jahr nach der schrecklichen Tat sprechen wir mit drei Hamburgern, die den Abend miterlebt haben.
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Seine Videos gehen um die Welt - 18-Jähriger filmt den Schützen
Durch das geöffnete Fenster in seinem Zimmer hört Gregor Miebach einen lauten Knall. Gegenüber ist eine Baustelle, der heute 18-Jährige denkt sich zunächst nichts dabei. Dann knallt es erneut. „Ich bin in Richtung Fenster gegangen, wollte es zumachen, habe aber gesehen, dass da sich irgendwas bewegt.“
Mit dem Handy macht der Jugendliche ein paar Videos, was genau er da eigentlich filmt, wird ihm erst später bewusst. „Ich habe ziemlich genau gefilmt, wie er geschossen hat und wie er sich dann das Fenster freigehauen hat, um einsteigen zu können“, erinnert sich Gregor. Es sind Bilder, die später um die Welt gehen.
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Die Minuten an diesem Abend sind auch für ihn aus eigentlich sicherer Entfernung nur schwer zu ertragen. Der junge Mann hat Angst, weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was eigentlich vor sich geht. Bis die Polizei bei ihm klingelt. Dank seiner Videos bekommen die Beamten die Bestätigung: Im Gemeindesaal ist nur ein einzelner Täter.
Im Video: Von seinem Fenster aus filmt Gregor den Täter
Polizei-Einsatz, auf den man sich nicht vorbereiten kann

Gegen 21 Uhr machen Lars Eggers und seine Einheit gerade Feierabend, als ein Funkspruch eingeht: Schüsse direkt um die Ecke des Polizeipräsidiums. „Das meiste war schon abgerüstet“, sagt Eggers über den Abend. „Und dann hat man sofort entschieden: Da müssen wir hin.“
Denn der Polizist gehört zu einer Spezialeinheit, die genau für solche Lagen da ist. Einsätze, auf die man sich nicht vorbereiten kann, erklärt er. „Schwerstverletzte Personen vorzufinden, kann man nicht trainieren. Tote hochzuheben kann man nicht trainieren. Eine hochschwangere Frau, die ihr Kind im Mutterleib verliert, das kann man nicht trainieren.“
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Als Philipp F. die Einsatzkräfte sieht, rennt er die Treppen über dem Gemeindesaal hoch, im obersten Stockwerk finden die Beamten den Schützen – tot. Eggers und sein Team sichern das Gebäude. In den Räumen herrscht absolutes Chaos und gleichzeitig gespenstische Stille. „Es hat keiner geschrien und um Hilfe gerufen, weil auch die dort befindlichen Personen nicht wussten, ob da noch mehr Täter sind“, erklärt Lars Eggers. „Das hat das Ganze ja im Nachhinein für uns auch noch mal so unfassbar gemacht. Es war einfach nur ruhig.“
Eindrücke, die auch den erfahrenen Einsatzleiter am nächsten Tag einholen und bis heute nachwirken.
Erinnerungen und Trauma der Tat - Gemeinde gedenkt den Verstorbenen
Prägend ist der Abend des 9. März vor allem für diejenigen, die direkt betroffen sind – die Zeugen Jehovas. Sieben Menschen verliert die Gemeinde in Alsterdorf. Einige sterben bei dem Versuch, andere zu schützen.
„Wir wissen von einem Seelsorger, der versucht hat, das Licht auszuschalten, um es dem Täter schwerer zu machen“, erzählt Michael Tsifidaris auf die schrecklichen Ereignisse zurück. „Er hat dafür mit seinem Leben bezahlt.“ Unter dem Körper eines anderen Seelsorgers bergen Einsatzkräfte später zwei Überlebende. „Die Erinnerung ist präsenter denn je“, so das Gemeindemitglied weiter.
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Die Erinnerungen und das Trauma will die Gemeinde am Jahrestag der Tat weiter gemeinsam verarbeiten. Dann kommen die Mitglieder und geladene Gäste der Stadt Hamburg zusammen, um an die Verstorbenen zu erinnern. Die Räume des Gemeindesaals nutzten die Zeugen Jehovas seit einem Jahr nicht mehr und auch nie wieder. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an diese Horrornacht, an einen Amoklauf mitten in Hamburg.