„Ich möchte nicht, dass die Patienten denken, sie sind mir egal“

Die Charité machts vor: So können Pflegekräfte entlastet werden!

von Kathrin Hetzel und Nina Lammers

Deutsche Krankenhäuser ächzen weiter unter Personalmangel. Schätzungen nach fehlen bundesweit allein 50.000 Intensivpfleger. In Nordrhein-Westfalen soll ein neuer Entlastungsplan den Beruf attraktiver machen - darauf haben sich Gewerkschaft und Kliniken nach wochenlangen Streiks geeinigt. Vorbild ist Berlin - dort werden überbelastete Pflegekräfte schon jetzt entschädigt - wie zeigt RTL-Reporterin Nina Lammers im Video.
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Im Pflegealltag geht oft das Menschliche verloren

Als wir Sophie Radke auf der Kinderkrebsstation der Charité in Berlin Wedding treffen, ist für sie ein guter Tag. Gemeinsam mit vier weiteren Pflegekräften, einer Erzieherin und einer Servicekraft muss sie heute die 14 kleinen Patienten versorgen. Ein guter Schnitt. Da bleibt auch mal Zeit für ein Gespräch mit den kranken Kindern und ihren Eltern.

Doch nicht jeder Tag ist so: manchmal fallen Kolleginnen und Kollegen aus oder es kommen ungeplante Notfälle rein. Dann gehe das Menschliche verloren, sagt Sophie. Das nage dann auch in nach der Schicht noch an ihr. Sie habe dann oft das Gefühl, sie konnte gar nicht mit den Patienten, für die sie so wichtig ist, reden. „Ich möchte nicht, dass die denken, sie sind mir egal“, sagt die gelernte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin. Dann entstehen Stress und die Unzufriedenheit, den Patienten nicht gerecht geworden zu sein.

Seit Beginn des Jahres werden solche Belastungssituationen in der Charité systematisch erfasst. Sophie geht an den Computer, loggt sich ein. Eine Seite baut sich auf. „CHEP-Kontostand“ steht da und „erworbene CHEP: 10“ CHEP – das sind Charité Entlastungspunkte. Einen Entlastungspunkt bekommen die Pflegekräfte, wenn sie in fünf Schichten zu viele Patienten betreut hatten. Sophie hat in diesem Jahr also schon jetzt in 50 belasteten Schichten gearbeitet.

Wann eine Belastung entsteht, ist je nach Station unterschiedlich. Auf der Intensivstation soll eine Pflegekraft pro Schicht nicht mehr als 1,8 Patienten versorgen. Auf der Normalstation für Erwachsene wird es zu viel, wenn eine Pflegekraft mehr als zehn Patienten in der Früh- und Spätschicht und mehr als 15 in der Nachtschicht betreuen muss.

Entlastung könne auf lange Sicht zu mehr Personal führen

Carla Eysel ist Vorständin der Charité und dort zuständig für Personal und Pflege. Mit der Einführung des CHEP-Systems gab es zum ersten Mal eine objektive Messung der Belastung. Die sei hoch, sagt Eysel. Es sei aber gut, dass es jetzt endlich Transparenz gäbe. Auch Personallücken werden jetzt deutlich. „Wir denken, dass wir so um die 180 Pflegekräfte im Jahr zusätzlich brauchen, um dann am Ende die richtige Besetzung im Sinne des Tarifvertrags zu bekommen“, sagt Eysel. Das ganze Interview mit ihr im Video unten.

Auf lange Sicht, könnte Entlastung dazu führen, dass mehr Pflegekräfte rekrutiert werden: Wenn der Job attraktiver wird, entscheiden sich vielleicht mehr junge Menschen für eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegkraft, so die Hoffnung. Außerdem könnten sich ausgestiegene Pflegekräfte dazu entscheiden, in den Job zurückzukehren oder Teilzeit wieder aufzustocken. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, errechnete ein Potential von mindestens 300.000 Vollzeit-stellen, durch Job-Rückkehrer und Teilzeit-Aufstocker.

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Auch NRW-Pflegekräfte bekommen neuen Tarifvertrag

Nach mehr als 11 Wochen Streik gibt es auch in NRW einen Tarifvertrag für die Pflegekräfte der Unikliniken. Schrittweise soll der neue Tarifvertrag ab ersten Januar 2023 umgesetzt werden. Entlastungen sollen vor allem dabei helfen, Pflegekräfte länger im Job zu halten.

Kinderkrankenpflegerin Sophie Radke aus Berlin kann ihre Entlastungspunkte inzwischen schon einlösen und sich entscheiden, ob sie Freizeit dafür haben will, eine Auszahlung oder zum Beispiel eine Urlaubsbeihilfe von 156 Euro. Die Charité arbeitet außerdem an der Möglichkeit, die Entlastungspunkte für Sabbaticals anzusparen. Sophies Pflegedienstleiter Kevin Bartsch – auch zuständig für die Dienstpläne auf der Kinderonkologie – erzählt, einige Kollegen nutzten die so erworbene Freizeit für Weiterbildungen. Sophie hat bislang fünf Entlastungspunkte eingelöst und wird bald ein paar Tage frei haben – was sie dann genau macht, weiß sie noch nicht genau. Vielleicht Wegfahren für ein verlängertes Wochenende, lächelt sie.

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