„Herr Spinner spinnt nicht!“ Grippe aktuell gefährlicher als Covid-19? Corona-Experten im Clinch

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Für viele Betroffene fühlt sich das Coronavirus mehr als mies an. Doch wie sehen die Corona-Experten die aktuelle Pandemie-Entwicklung und ist die "echte Virus-Grippe" aktuell gefährlicher als die Omikron-Variante?
iStockphoto, istock

„Die Covid-19-Erkrankung ist weit weniger gefährlich als die echte Virus-Grippe“, sagt der Münchener Infektiologe Dr. Christoph Spinner zur aktuellen Situation. Ist das ein Lichtblick oder eine Verharmlosung der Erkrankung? Nach zwei Jahren Pandemie mit drastischen persönlichen Einschränkungen für die Bevölkerung und Horror-Nachrichten zu Todesfällen ist das auf den ersten Blick eine kontroverse Aussage. RTL hat sich bei fünf Corona-Experten dazu umgehört.
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Coronavirus aktuell weniger gefährlich als echte Grippe? Experten ordnen Aussage ein

„Herr Spinner spinnt nicht! Ich kann die Aussage so unterschreiben“, sagt Dr. Christoph Specht, Allgemeinmediziner und Medizinjournalist im RTL-Gespräch. Mit Blick auf die aktuelle Corona-Letalitätsrate (Fallsterblichkeitsrate) sei klar, dass selbst die saisonale Grippe im Vergleich dazu in der Letalität deutlich höher ausfällt. „Das bezieht sich aber nur auf Omikron! Bei der Delta-Variante war das noch ganz anders“, so die Einschätzung von Dr. Specht.

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Dr. Christoph Specht: "Befinden uns am Übergang zur Endemie"

Ähnlich wie Dr. Spinner, sieht auch der RTL-Experte Dr. Specht die aktuelle Entwicklung der Pandemie als Wendepunkt an, weil weniger Menschen schwer erkranken.„Auch, wenn Ausnahmen bekanntlich die Regel bestätigen. Insgesamt befinden wir uns am Übergang zur Endemie – auch, weil sich die Immunitätslage in der Bevölkerung deutlich verbessert hat“, so Spechts Einschätzung.

Allgemeinmediziner Dr. Christoph Specht
Allgemeinmediziner Dr. Christoph Specht spricht über die aktuelle Pandemie-Lage im Vergleich zur Virus-Gruppe.
RTL
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Covid-19 harmloser als Virus-Grippe? Arzt winkt ab: „Halte diese Aussage für populistisch“

Also ist momentan in Sachen Corona-Pandemie erst einmal Entwarnung angesagt? „Nein, es gibt ganz klar Grund zur Sorge“, sagt der ehemals leitende Kölner Impfarzt und HNO-Mediziner Dr. Jürgen Zastrow zum Virus-Grippe-Vergleich des Münchener Infektiologen.

„Ich halte das für populistisch und würde mich nicht trauen, so eine Aussage zu treffen. Man kann sagen, dass die Krankheitsverläufe jetzt mit Omikron harmloser sind, aber ein exakter Vergleich mit der Virus-Grippe ist nicht möglich“, findet Zastrow.

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Experte Dr. Jürgen Zastrow: "Langzeitfolgen bei Virus-Grippe exotisch selten“

In der Vergangenheit seien in einer Grippe-Saison etwa 20.000 Menschen gestorben. Doch welche Zahlen gibt es zur Influenza noch? „Bei Corona haben wir die Inzidenz – vergleichbare Zahlen der Virus-Grippe sind mir nicht bekannt“, sagt der Kölner Arzt. Die Durchseuchung in der Bevölkerung sei bei Corona wesentlich höher als bei der Virus-Grippe und daher steige auch das statistische Risiko, möglicherweise Langzeitfolgen davonzutragen.

Und: „Was wir aber wissen ist, dass Langzeitfolgen, wie Long Covid bei der Virus-Gruppe exotisch selten sind. Während die Daten, die wir aber in der kurzen Zeit zu Long Covid bekommen haben, Anlass zur Sorge geben“, so Zastrow und verweist zum Beispiel auf eine aktuelle Studie der Universität Köln.

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Corona-Experte: „Brauchen dringend noch mehr belastbare Zahlen zu Long Covid“

Die Long-Covid-Studie sei zwar noch mit der Delta-Variante durchgeführt worden, habe aber erschreckende Zahlen geliefert. „Der Studie nach liegt die Inzidenz zu Long Covid bei 45 bis 50 Prozent. Das heißt, 45 bis 50 Prozent aller Menschen, die es haben, bekommen auch Long Covid-Symptome und das ist ja ein Riesen-Unterschied zur Virus-Grippe“, sagt Zastrow. Entwarnung sei aktuell also noch nicht möglich, sondern: „Wir brauchen dringend noch mehr belastbare Zahlen zu Long Covid“, so der HNO-Mediziner.

Virologe Klaus Stöhr: "Infektiologe hat die Corona-Situation richtig beobachtet"

Die Long Covid-Studienlage beurteilt auch Virologe Klaus Stöhr als unzureichend. Oft sei ohne Kontrollgruppe agiert worden und auch Internet-Umfragen seien nicht ausreichend, um die tatsächlichen Folgeschäden nach einer Coronavirus-Infektion umfassend zu beurteilen. Die repräsentativen Long-Covid-Studien aus England, Dänemark, der Schweiz und auch Deutschland zeigen, dass Long-Covid ernst genommen werden muss, aber bei weitem nicht in den oft zitierten Größenordnungen vorkommt. „Der beste Schutz gegen Folgeschäden, ist die Impfung. Mehr können wir kurz und mittelfristig in den nächsten Jahren nicht tun. Denn wir werden uns alle sehr bald infizieren“, betont Stöhr und stimmt dem Münchener Infektiologen in seinen Aussagen zu.

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„Wir sehen jetzt bereits, dass die saisonale Corona-Infektion der saisonalen Grippe maximal gleichkommt, sowohl in ihren medizinischen Auswirkungen als auch in den gesundheitlichen“, so Stöhr im RTL-Gespräch. Der Infektiologe Christoph Spinner habe die Corona-Situation richtig beobachtet. Es sei wichtig, auf der letzten Etappe bis zum Pandemie-Ende, die Weiterentwicklung des Coronavirus öffentlich adäquat zu kommunizieren und auch von der Panikmache wegzukommen, die in Deutschland immer noch allgegenwärtig sei – gerade im Vergleich zu anderen Ländern, wie zum Beispiel Dänemark, der Schweiz oder Österreich.

Klaus Stöhr
Epidemiologe und Virologen Klaus Stöhr ordnet die Aussagen von Dr. Christoph Spinner ein.
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Hygieneexperte Dr. Zinn: "Corona hat seinen Schrecken noch lange nicht verloren"

Eine komplett andere Haltung vertritt Hygieneexperte Dr. Zinn im RTL-Gespräch. „Ich glaube, man muss diese Aussage relativieren. Im ganzen Interview sagt Dr. Spinner auch, dass Corona ursprünglich zwanzigmal tödlicher als die Grippe war - und ist. Dadurch, dass wir jetzt so viele Geimpfte und Genesene haben, hat Corona einen Teil seines Schreckens verloren. Man muss aber sagen, dass wir seit Anfang des Jahres 20.000 Menschen an Corona verloren haben und wir haben noch 1.900 Menschen auf den Intensivstationen. Das heißt: Corona hat seinen Schrecken noch lange nicht verloren und ist auch nicht mit der Grippe zu vergleichen“, so Dr. Georg-Christian Zinn, Direktor Hygienezentrum Bioscientia.

Lungenfacharzt Doc Esser: "Bei Influenza sollten sich Teile der Bevölkerung impfen lassen, bei Corona alle"

Auch der Lungenfacharzt Dr. Heinz-Wilhelm Esser, vielen auch bekannt als „Doc Esser“, kann mit dem Grippe-Vergleich wenig anfangen. „Aus meiner Sicht ist eine Infektion mit der Omikron-Variante nicht vergleichbar mit einer Influenza-Infektion. Obwohl wir nun mit einer Variante zu tun haben, die für den Großteil der Betroffenen harmloser verläuft und zu einer deutlich niedrigen Hospitalisierungsrate führt, haben wir es doch deutlich öfter mit einer Post-infektiösen Problematik zu tun, die wir so von einer Influenza-Erkrankung in diesem Ausmaß nicht kennen. Sind es bei der Influenza Teile der Bevölkerung, die sich impfen lassen sollten, sind bei Corona alle gefragt“, sagt Esser.