Hebamme klärt aufDiese sechs Baby-Mythen stammen aus der Nazi-Zeit

Hebamme Sonja Liggett-Igelmund
Die Kölner Hebamme Sonja Liggett-Igelmund über falsches Baby-Wissen und woher es kommt.
dpa/iStock/RTL-Fotomontage

„Lass das Baby schreien! Das stärkt seine Lunge!“
Kommt euch dieser Rat bekannt vor? Tatsächlich ist das nicht nur Quatsch, sondern stammt sogar noch aus dem wohl dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – aus der NS-Zeit! Trotzdem halten sich solche Glaubenssätze für den Umgang mit Babys und Kindern bis heute hartnäckig. Warum sich dieses falsche Baby-Wissen fatal auswirkt und wie es endlich aus unseren Köpfen verschwindet, erklärt Hebamme Sonja Liggett-Igelmund (49) im Interview.

Baby-Mythen stammen ursprünglich aus uraltem Erziehungsratgeber

Nach mehr als 20 Jahren hat die Kölner Hebamme viel gesehen und gehört.

„Es ist echt Wahnsinn, wie viel erzieherisches Schwarmwissen über Babys und Kinder noch aus der Nazi-Zeit stammt. Viele dieser Ansichten gehen auf das Buch: ‚Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind‘ von Dr. Johanna Haarer aus dem Jahr 1932 zurück. Es gehörte damals zu den bekanntesten Erziehungsratgebern und wurde lange von Generation zu Generation weitergegeben. Der Titel wurde sogar bis ins Jahr 1987 in letzter Auflage verfasst. Viele Teile des Inhalts halten sich deswegen hartnäckig“, erklärt die Hebamme.

„Das Nazi-Buch hatte das Ziel, das Babys nur ‚gewartet‘ werden und keine Bindung zu Mutter oder Vater aufbauen. Fatal für die Entwicklung von Kindern“, kritisiert die Expertin.

Sechs Sätze mit Nazi-Ursprung, die ihr aus euren Köpfen verbannen solltet

Immer wieder begegnet der Hebamme noch heute die Verunsicherung vieler frisch gebackener Eltern, wenn sie bestimmte Sätze zu hören bekommen. Die folgenden „Tipps“ haben ihren dunklen Ursprung tatsächlich aus dem völlig überholten, braunen Erziehungsratgeber.

  1. „Babys sollte man schreien lassen – das kräftigt die Lungen“

  2. „Babys sollte man nie zu sehr verwöhnen – sonst werden sie Tyrannen“

  3. „Ein Baby sollte man nicht beim kleinsten Mucks auf den Arm nehmen“

  4. „Babys sollten nicht zu oft in den Arm genommen werden“

  5. „Babys sollten nur alle vier Stunden gefüttert werden“

  6. „Babys sollten möglichst schnell im eigenen Zimmer schlafen“

Diese Glaubenssätze seien so oder in der abgewandelten Form allesamt falsch und hätten üble Folgen, erklärt die Hebamme und weist regelmäßig darauf hin, woher sie kommen.

Lese-Tipp: Wie Eltern selbstbewusste Kinder erziehen

Sonja Liggett - Igelmund HebammeâÄ_zu Gast in der WDR TV Talkshow Koelner TreffâÄ_aus dem WDR Studio Bocklemuend am Freitag 09.Juni 2017 in Koeln
Die Hebamme Sonja Liggett-Igelmund macht sich regelmäßig für ihre Berufsgruppe stark und kämpft gegen Missstände.
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„Kanonenfutter für das NS-Regime“

Doch wie konnte sich das Wissen aus diesem einen Buch aus dunkler Zeit so tief in unseren Köpfen verankern?

„Die Autorin, Ärztin und Mutter von vier Kindern hatte beim Schreiben vor allem eins im Sinn – Kanonenfutter für das NS-Regime zu erziehen. Aus den Kindern sollten schwache Charaktere werden, die einer Person wie dem Führer widerstandslos hinterherlaufen“, so Liggett-Igelmund.

In ihrem Arbeitsalltag stellt die Hebamme fest, dass die autoritären Methoden aus der Nazi-Zeit weiterwirken. Viele Väter und Mütter fragen sich noch im Jahr 2024, ob sie ihr Kind nicht zu sehr verwöhnen, „verweichlichen und damit zum Tyrannen machen“ – wie im Buch beschrieben.

Bedürfnissen, die als Kind nicht befriedigt worden seien, würde man aber sein Leben lang hinterherlaufen.

„Dabei können wir unsere Kinder gar nicht mit Zuneigung verwöhnen. Das dritte Eis zu kaufen ist verwöhnen. Hier müssen Eltern lernen, den Frust ihrer Kinder auszuhalten – das ist schwer, aber von Liebe und Zuneigung können Kinder nie genug haben“, stellt die Hebamme klar.

Lese-Tipp: Diese Elternsätze von früher wären heute undenkbar - oder sogar strafbar!

Eure Erfahrung interessiert uns!

Falsche Ratschläge von Opa und Oma? „Eltern leiden darunter“

Tatsächlich würden Eltern auch unter den falschen Ratschlägen leiden.

„Falsche Tipps zum Umgang mit Babys kommen oft von Großeltern, die es nicht böse meinen, es aber oft nicht besser wissen, weil sie selbst so erzogen wurden“, weiß die Expertin.

„Die Eltern leiden darunter, wenn sie von Opa und Oma zu hören bekommen: ‚Du hast doch in dem Alter in deinem Kinderzimmer geschlafen‘, ‚ach, lass doch das Kind schreien‘ und ‚das hat dir doch auch nicht geschadet‘“, weiß Ligget-Igelmund aus Erfahrung.

Familie: Mutter und Kind. Mutter mit Kind im Kinderwagen in der Uckermark. Foto, undat. (um 1930). Privatsammlung Profitlich.
„Babys nicht bei jedem Mucks auf den Arm nehmen?“ Kinder wurden in den 1930er-Jahren mit Härte erzogen. Die falschen Tipps aus dieser Zeit halten sich bis heute.
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„Kinder müssen lernen, dass ihnen geholfen wird“

Doch was genau ist an den sechs Sätzen aus dem Buch so falsch?

„Alle Sätze aus dem Buch, von zwei bis sechs zielen darauf ab, dass keine Bindung zum Elternteil, damals vor allem zur Mutter, aufgebaut werden kann. Kinder sollten mit Disziplin und Härte aufgezogen werden – das Kindeswohl hat keine Rolle gespielt“, so fasst Ligget-Igelmund das Ziel der NS-Pädagogik zusammen.

„‚Ein Kind schreien lassen‘ ist ein gutes Beispiel. Warum das falsch ist? Kinder kommunizieren. Wenn ich das ignoriere, wird das Weinen zu einem Schreien. Und wenn ich das ignoriere, hört der Säugling irgendwann nur auf, weil er schlicht und einfach resigniert.“ Dies sei eine Schutzfunktion des zentralen Nervensystems. „Das Kind merkt sich allerdings: Mir wird nicht geholfen und deswegen gibt es auf“, erklärt die Expertin.

„Kinder müssen lernen, dass ihnen geholfen wird, wenn sie ein Bedürfnis haben. Lässt man sie schreien, kann sich dieses Urvertrauen nicht entwickeln“, weiß Liggett-Igelmund.

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„Hitler-Deutschland wollte, dass der potenzielle Soldat gut schlafen kann“

Ähnlich sieht es laut Liggett-Igelmund mit der Wirkung der anderen Nazi-Glaubenssätze aus.Am Beispiel des Satzes: ‚Babys sollten schnell im eigenen Zimmer schlafen‘ zeige sich, dass „Hitler-Deutschland wollte, dass der potenzielle Soldat gut schlafen kann.“

Dabei sollte die Frage, wie lange das eigene Kind im Elternbett schlafen sollte, besser individuell beantwortet werden, fordert die Expertin.

Im engen Austausch mit der eigenen Hebamme könnten Eltern solche Fragen klären. Eins ist klar: Wird ein Baby heute nach den Maßstäben der 1930er-Jahre erzogen, sollten sich Eltern dessen zumindest bewusst sein und sich die Frage stellen, ob sie den Nazis diesen Sieg gönnen wollen.

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