Er holte seine Tochter aus Polen zurück

Als Fünfjährige von der Mutter entführt: Vater erzählt, wie es Lara (12) heute geht

Laras Vater erzählt, wie es der 12-Jährigen heute geht Trauma Kindesentführung
02:15 min
Trauma Kindesentführung
Laras Vater erzählt, wie es der 12-Jährigen heute geht

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"Ich hoffe, dass sie zu einer klugen, reifen Frau heranwächst"

Der Fall "Lara aus Ditzingen" bewegte viele Menschen, das Kind wurde Opfer eines Sorgerechtsstreits. Lara wurde zum ersten mal mit gerade erst zwei Jahren von ihrer Mutter verschleppt. In den darauffolgenden Jahren war sie mal in Deutschland beim Vater, mal in Polen bei der Mutter. Der Streit eskalierte derart, dass die damals Fünfjährige 2014 von ihrer Mutter nach Polen entführt wurde. Ihr Vater Thomas Karzelek kämpfte um seine Tochter, ein Gericht sprach ihm 2014 das alleinige Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht zu. Nach dem Richterspruch verschleppte die Mutter Lara erneut. Weil die Behörden ihm nicht halfen, holte er seit Kind nach vier Jahren sein Kind eigenmächtig zurück nach Deutschland. Jetzt erzählt er uns, wie es seiner Tochter und ihm selbst heute geht. Mehr dazu in unserem Video.

Lara geht gern zum Gymnasium

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Lara geht gern zur Schule

Karzelek und Lara leben inzwischen nicht mehr in Ditzingen, sondern sind in Nordrhein-Westfalen heimisch geworden. Auch wenn sich Vater und Tochter in der neuen Heimat sehr wohl fühlen, wird es noch lange dauern, bis beide das Entführungstrauma und die langen Jahre der Trennung komplett verarbeitet haben, sofern das überhaupt jemals der Fall sein kann.

RTL.de: Wie geht es Lara heute?

Karzelek: Meiner Tochter Lara geht es gut. Wir waren am Wochenende mit meinem Bruder und seinen Kindern auf dem alljährlichen Brüder-Kinder-Wochenende – damit sich die Frauen vom Alltagsstress erholen können. Es ist eine Tradition, die wir pflegen, seit Lara zurückgekehrt ist. Sie hat sich sehr gut entwickelt – in der Schule erzielt sie sehr gute Ergebnisse, hat ihre Gymnasial-Empfehlung ohne Einschränkungen erhalten und besucht die neue Schule sehr gerne.

Sie waren schon auf einer Klassenfahrt und sie hat bereits jetzt neue Freundinnen dort gefunden. Sie lernt Geige, besucht Pfadfinder, jetzt probierte sie Fechten, aber eigentlich will sie noch das Reiten probieren, bevor sie sich für eine neue Sportart entscheidet. Natürlich braucht sie Unterstützung im Alltag – diese bekommt sie vom Jugendamt in Form einer Erziehungshilfe für sich allein.

Vater und Tochter lernen, mit ihren Traumata zu leben

Lara mit Vater Thomas im Urlaub.
Lara mit Vater Thomas im Urlaub.

„Wir leben jeden Tag mit den Folgen der Entführung", haben Sie in einem Zeitungsinterview gesagt. Können Sie das näher ausführen?

Karzelek: Aufgrund der Folgen der Entführung hat Lara natürlich ein zerstörtes Selbstvertrauen – sie kommt in der Schule nur über ihre Überangepasstheit klar. Das ist jedoch sehr anstrengend und die Folgen spüren wir natürlich zu Hause, denn die negativen Gefühle müssen auch dann irgendwann wieder raus. Also manchmal sagt sie genervt, „was willst Du wieder!“ Sie brüllt und ich kann es gar nicht deuten – aber dann frage ich sie, ob sie etwas Negatives in der Schule erlebt hat, ob sie sich schlecht fühlt.

Manchmal reicht es schon, dann sprudelt es aus ihr heraus. Ich ermahne sie zu positiven Gefühlen. Damit sie lernt auch mit den weniger positiven Gefühlen umzugehen. Denn wir können nur das ändern, worauf wir einen Einfluss haben. Und der eigene Einflussbereich liegt zunächst nur bei uns selbst. Natürlich lernen wir auch mit unseren Traumata zu leben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Karzelek: Lara hatte mal in der Schule einen Trigger erlebt, wo sie beinahe zusammengebrochen ist – die Kinder waren bei der Feuerwehr zu Besuch – wir wissen nicht, ob es das Martinshorn war, oder die uniformierten Männer. Auf einmal zitterte sie am ganzen Körper und war kaum ansprechbar. Nur durch gutes Zureden konnten die Lehrer sie wieder beruhigen. Die Therapeutin von Lara spricht oft über das erlebte mit ihr. Sie redet von Flashbacks, die sie hatte – die langen Tage eingesperrt in dieser kleinen schäbigen Wohnung in Legnica – wo es alles so grau war, aber manchmal sah sie die Kinder draußen spielen. Sie wollte mitspielen, aber sie durfte nicht. Das ist ihr bewusst – sie arbeitet es langsam auf.

Wie steht Lara zu ihrer Mutter?

Karzelek: Zu der Großmutter und ihrer Mutter hat sie ambivalente Gefühle – klar, sie liebt sie – aber gleichzeitig hasst sie das, was ihr durch sie angetan wurde. Oft flieht sie vor zu starker Belastung in die virtuelle Welt der Handy-Spiele. Das tut ihr zeitweise gut. Wir sorgen aber auch dafür, dass sie auch in anderen Hobbies ihre Ruhe finden kann.

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Eher unwahrscheinlich, dass die Mutter Lara erneut entführt

Eis
Lara beim Eis-Essen mit Karzeleks Lebensgefährtin Petra (links)

Sprechen Sie mit Lara täglich über die Entführung oder sind es überwiegend Situationen, in denen das eine Rolle spielt, ohne dass einer von Ihnen es ausspricht?

Karzelek: Ich spreche es niemals an. Es kommt manchmal im Gespräch, dass wir auf das Thema kommen. Auch durch mein Engagement als Vorsitzender SOS Kindesentführung e.V. bekommt manchmal Lara mit, dass ich anderen Eltern und Kindern helfe, die in ähnliche Situation kommen, wie sie gewesen ist.

Ihre beste Freundin in Spanien auf Mallorca heißt Olivia. Sie wurde ebenfalls durch ihre polnische Mutter entführt. Olivia wurde sechseinhalb Jahre versteckt und kam 2019 zurück nach Hause. Da sie zeitweise in Deutschland versteckt wurde, spricht sie sehr gut Deutsch und so haben sich die beiden angefreundet, denn ihre Geschichte verbindet sie.

Haben Sie Sorge, dass die Mutter nochmals versuchen könnte, Lara zu entführen?

Karzelek: Ja, aber die Wahrscheinlichkeit ist immer geringer. Dafür ist Lara immer selbständiger. Und so klein, dass man sie auf den Arm nehmen könnte, ist sie auch nicht mehr. Die Angst wird immer geringer.

Gefühl der Hilflosigkeit war das Schlimmste

Was war rückblickend für Sie das Schlimmste in der Zeit, als ihre Tochter verschwunden war?

Karzelek: Das Gefühl der Hilflosigkeit. Die Behörden wollten nicht helfen. Man ist allein auf sich gestellt. Jedes Säugetier würde sein Leben für sein Nachwuchs opfern, wenn es gefährdet ist. Aber ich konnte nichts tun. Die polnischen Behörden haben einfach gegen das Recht gehandelt und tun es immer noch. Der Schmerz bei einem vermissten Kind ist mit der schlimmste, den ein Elternteil erleben kann.

Wenn ein Kind nicht mehr da ist, gibt es eine Beerdigung, der Schmerz ist furchtbar – aber es geht dann in den Heilungsprozess über. Bei einem entführten und vermissten Kind ist der Schmerz genauso, jedoch mit jedem Tag neu. Es kann kein Heilungsprozess stattfinden, denn man weiß nicht, wo sich das Kind befindet, ob es überhaupt lebt.

Die Behörden, Jugendamt, Gerichte – unternehmen nichts, denn sie begnügen sich mit der Feststellung, dass sie nicht wissen können, ob es dem Kind gut oder schlecht geht. In unserem Fall hat Lara ein Trauma und erhebliche Schäden in ihrer kindlichen Entwicklung. Hätten die Behörden entsprechend gehandelt, wäre sie vielleicht früher nach Hause zurückgekehrt.

Deutsche Polizei und Gerichte hätten entschiedener handeln müssen

Bruder
Thomas Karzelek (mitte) mit seinem Sohn Daniel (links) und Tochter Lara

Hätten Sie sich mehr Unterstützung der deutschen Behörden gewünscht?

Karzelek: Ja, auf jeden Fall. Die deutsche Polizei und Gerichte hätten entschiedener handeln müssen. Es gibt die Mittel dafür – den europäischen Ermittlungsauftrag zum Beispiel. Sie hätten nach der Großmutter fahnden können. Das alles haben sie unterlassen, mit der Begründung, ich müsse es selbst in Polen machen. Das ist mitnichten wahr. Jetzt weiß ich es.

Sie haben den Verein SOS Kindesentführung, eine europäische Organisation zur Rettung entführter Kinder, gegründet. Was genau macht dieser Verein?

Karzelek: Wir helfen Kindern, die durch ein Elternteil entführt wurden. Wir machen es aktiv, unterstützen die Eltern sowohl hier als auch im Ausland. Wir sind ein anerkannter gemeinnütziger Verein mit dem Sitz in Hamm (Westfalen). Wir haben schon sehr vielen Eltern und Kindern helfen können – haben aber zu wenig finanzielle Mittel, um noch aktiver zu sein. Wir hoffen, dass sich das ändert und wir noch effektiver unsere Arbeit tun können.

Hoffnung auf Versöhnung mit der Familie in Polen

Was erträumen Sie sich für die Zukunft ihrer Tochter, wo sehen Sie Lara in sieben Jahren?

Karzelek: Ich hoffe, dass sie ihre Ruhe findet. Ich hoffe, dass sie wieder auch ihre Familie in Polen sehen kann, dass es zu einer Versöhnung mit der Familie auch kommt. Hass und negative Gefühle belasten immer – sowohl den, der sie hat und sendet, als auch den, der sie empfängt. Wir sollten mit Liebe den Hass besiegen und uns auf das wesentliche konzentrieren. Ich hoffe, dass sie zu einer klugen, reifen Frau heranwächst und lernt mit ihrem Trauma zu leben. (uvo)