RTL macht den Praxistest
Kann ChatGPT eine Therapie ersetzen? Psychologe bewertet KI-Antworten

Gefahr oder große Chance?
Bei Fragen wie „Was kann ich mit den Zutaten in meinem Kühlschrank kochen?“ oder „Kannst du mir die wichtigsten Nachrichten des Tages zusammenfassen?“ liefern KI-Systeme wie ChatGPT schnell gute Hilfe. Doch auch für spezifischere Fragen wird die künstliche Intelligenz mittlerweile immer öfter zu Rate gezogen. Etwa, um psychologische Ratschläge zu erhalten. Wie hilfreich sind die Antworten der KI? Können sie einen Besuch beim Psychologen ersetzen? Oder bergen sie möglicherweise sogar Gefahren?
Psychologe stellt ChatGPT auf den Prüfstand

Um diese Fragen zu beantworten, haben wir zusammen mit Diplom-Psychologe Michael Thiel die Probe aufs Exempel gemacht und ChatGPT zu den beiden Themenbereichen Angst/Panik und Depressionen um Hilfe gebeten.
„Damit hätten wir die größten Patientengruppen abgedeckt“, weiß der Experte. Im Anschluss hat Psychologe Thiel die Antworten der KI einmal ganz genau unter die Lupe genommen.
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Angst und Panikattacken: Kann ChatGPT helfen?
Als vermeintlicher Angstpatient haben wir ChatGPT gefragt: „Ich brauche deine Hilfe: Ich habe ein Problem mit Panikattacken und Angst. Kannst du mir meine Fragen beantworten? Was mache ich, wenn ich plötzlich Panik bekomme? Wie kann ich verhindern, dass die Angst mein Leben bestimmt? Muss ich mich meinen Ängsten stellen? Was, wenn ich die Kontrolle verliere?“
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ChatGPT antwortete im Nu und riet etwa, auf regelmäßige Routinen zu achten, sich im Akutfall auf die Atmung zu konzentrieren und sich in kleinen Schritten den eigenen Ängsten zu stellen. Außerdem bot die KI an, Notfall-Strategien aufzuzeigen, „wie du konkret mit Panikattacken im Alltag umgehen kannst“.
Auf ein „Ja, bitte“ folgten prompt einige Vorschläge. Darunter beispielsweise eine Atemübung oder sich durch Bodenkontakt auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Zudem riet die KI als langfristige Strategien, Tagebuch zu schreiben oder Achtsamkeitsübungen zu machen – aber auch, Hilfe anzunehmen und etwa eine (Verhaltens-) Therapie zu machen.
Wie bewertet Psychologe Michael Thiel die Antworten?
Grundsätzlich beurteilt Thiel das Erste-Hilfe-Angebot der künstlichen Intelligenz in Sachen Angst und Panikattacken als gut. „Die Tipps sind inhaltlich sehr solide und praxisnah“, erklärt er. Die einzige Kritik: „Ein paar Ergänzungen könnten helfen, sie individuell anpassbar und wirksamer zu machen.“
Wie reagiert ChatGPT auf die Fragen eines Menschen mit Depressionen?
Die Antworten, die ChatGPT zu unseren Fragen in Sachen Depressionen gibt, sieht der Experte hingegen kritischer.
Wir haben die KI gefragt: „Ich brauche deine Hilfe: Seit einigen Wochen fühle ich mich so leer. Ich komme morgens nicht aus dem Bett, grüble sehr viel. Wie kann ich das ändern? Werde ich jemals wieder so unbeschwert wie früher sein?“
Die Antwort lautete: „Es klingt so, als würdest du gerade eine sehr belastende Zeit durchmachen – diese Leere, Grübeleien und Antriebslosigkeit können echte Warnzeichen sein, dass deine Seele überfordert ist. Erstmal: Du bist nicht allein, und ja – es ist möglich, wieder unbeschwerter zu leben. Aber dafür braucht es oft kleine Schritte und manchmal auch Unterstützung von außen.“
Zudem riet ChatGPT, Routinen aufzubauen, mit Bewegung gegenzusteuern, mit jemandem zu sprechen und zu akzeptieren, „dass es okay ist, sich so zu fühlen“.
Laut Michael Thiel enthalte der Text zwar „viele hilfreiche und fast empathisch wirkende Elemente“. „Er greift typische depressive Symptome auf, bietet erste Orientierung und normalisiert die Erfahrung“, fasst der Experte zusammen. Aber Michael Thiel betont auch, dass „es einige Schwächen und Verbesserungspotenzial“ gebe – „insbesondere, wenn man psychotherapeutische, klinisch-psychologische und realitätsnahe Standards ernst nimmt“.
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Als besonders positiv steche der einfühlsame Tonfall und die Würdigung des Hilfesuchens hervor. Aber auch die leicht umsetzbaren Alltagstipps oder das Angebot konkreter Unterstützung (Therapieplatzsuche, Tagesstruktur) seien dem Experten positiv aufgefallen.
Die größten Probleme sieht Michael Thiel hingegen unter anderem in der Verharmlosung durch Verallgemeinerung (durch Sätze wie „Viele erleben so etwas…“), in der Übersimplifizierung des Heilungsverlaufs (durch Sätze wie „Du wirst wieder unbeschwert sein können“) und in der fehlenden Risikodifferenzierung (liegt etwa Suizidalität oder Substanzgebrauch vor?).
Taugt KI als Psychotherapie-Ersatz? Das sagt der Experte
Auch wenn Psychologe Michael Thiel die ChatGPT-Antworten nicht durchweg als negativ bewertet, warnt er: „ChatGPT ist kein Ersatz für echte Therapie!” Nur ein Psychotherapeut mit jahrelanger Ausbildung könne eine individuelle Diagnose stellen. Zudem fehle die sogenannte „therapeutische Bindung”, was „ein zentrales Wirkprinzip psychologischer Behandlung” sei.
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Aber: Es könne sinnvoll sein, ChatGPT als erste Anlaufstelle zur Information oder zur Überbrückung der Wartezeit für eine Psychotherapie zu nutzen – „aber nur mit dem klaren Bewusstsein, dass es kein Ersatz für eine professionelle Behandlung ist”.
Konkret empfiehlt Diplom-Psychologe Michael Thiel:
Nutzung von ChatGPT zur Reflexion, Orientierung und Information
Parallele Anmeldung bei Psychotherapeuten oder psychosozialen Stellen
Im Notfall: Kontakt zu Krisendiensten, Hausärzt:innen oder psychiatrischen Ambulanzen suchen
Hier findet ihr Hilfe in schwierigen Situationen
Solltet ihr selbst von Suizidgedanken betroffen sein, sucht euch bitte umgehend Hilfe! Versucht, mit anderen Menschen darüber zu sprechen! Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch die Möglichkeit, anonym mit anderen Menschen über eure Gedanken zu sprechen. Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Wenn ihr schnell Hilfe braucht, dann findet ihr unter der kostenlosen Telefon-Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 Menschen, die euch Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.