"Aus Nervosität wird Sorge, aus Sorge schiere Panik"

Zugunglück in Bayern: RTL-Mitarbeiter Stephan Lieb erlebte das Unglück mit

von Stephan Lieb

Die Entscheidung, die mich in die Situation gebracht hat, diesen Artikel zu schreiben, habe ich am Donnerstag getroffen. Während meine Familie noch einen Tag länger im gemeinsamen Urlaub in den bayrischen Alpen bleiben wollte, entschied ich mich, einen Tag früher zurück in meine Heimat Köln zu fahren. Am Freitagabend wollte ich mit einem Kollegen zu einer Veranstaltung gehen.

RTL-Mitarbeiter Stephan Lieb schildert seine Eindrücke über das Zugunglück

Mit meinem Koffer und einem Rucksack bepackt sitze ich also um 11:30 am Freitag am idyllischen Bahnhof Garmisch-Partenkirchen. Viel zu früh für die RB 6, die planmäßig um 12:07 von Gleis 3 Richtung München fahren soll. So früh, dass ich fast noch mit einer anderen Wartenden in den falschen Zug gestiegen wäre.

Als die Regionalbahn mit moderater Verspätung einrollt, spricht mich ein ausländisches Paar mit kleinem Kind an. Etwas hektisch fragt mich der Mann auf englisch: "Is this train going to Munich?" (Fährt dieser Zug nach München?) Ich bestätige und steige mit ihm in den Waggon ein, der wenige Minuten später schräg eine Böschung hinabrasen wird. Immerhin entscheide ich mich dagegen, noch ein paar Türen weiter zu gehen, in den Waggon, der gleich umkippen wird.

Um 12:14 fahren wir los. Wie am Bahnsteig, so ist auch in der doppelstöckigen Bahn zwar einiges los, aber ich nehme sie nicht als überfüllt wahr. Der Platz neben mir bleibt frei. Meinen Koffer stelle ich deshalb neben mich. Die Stimmung im Abteil ist gut, es liegt der Start ins lange Pfingstwochenende in der Luft. Viele Kinder albern herum. In ca. eineinhalb Stunden bin ich in München Hauptbahnhof, 20 Minuten Umsteigezeit zum ICE nach Köln. Alles läuft nach Plan.

Werde zunehmend unsicherer, ob ich das Geschehen überlebe

Es ist schwer zu beschreiben, ab wann uns Reisenden klar wurde, dass etwas nicht stimmt. Wir sind erst wenige Minuten unterwegs, als es anfängt zu ruckeln. Zunächst nur leicht, dann doch stark genug, dass im Abteil ein unruhiges Gegrummel beginnt. Aus Nervosität wird Sorge, aus Sorge schiere Panik. Das Ruckeln wird immer heftiger, bald wird klar, dass wir das Schienenbett verlassen haben und seitlich die Böschung hinunter rasen, die in in einem Bach mündet.

Der Staub, den wir bei der Irrfahrt aufwirbeln, macht die Situation noch bedrohlicher. Koffer fliegen umher, Menschen schreien, das Ruckeln ist so stark geworden, dass man sich am Sitz festklammern muss, um nicht selbst rumgeschleudert zu werden. Und dann ein Knall. Ein ohrenbetäubender, metallischer Knall. Vermutlich verursacht vom Waggon vor uns, der umgekippt ist.

Völliges Entsetzen, niemand scheint zu begreifen, was hier gerade geschieht. Der einzige Gedanke, an den ich mich erinnern kann, ist, dass ich mir zunehmend unsicherer werde, ob ich das Geschehen überlebe. Ich habe mich oft gefragt, wie es sich wohl anfühlt, in einem Flugzeug zu sitzen, in dem die Passagiere wissen, dass es abstürzen wird. Gestern bin ich der Antwort ein Stück näher gekommen.

03.06.2022, Bayern, Garmisch-Partenkirchen: Zahlreiche Einsatz- und Rettungskräfte bereiten die Unglücksstelle für den weiteren Einsatz in der Nacht vor. Bei einem schweren Zugunglück sind in Garmisch-Partenkirchen mindestens vier Menschen ums Leben gekommen. Ein Regionalexpress entgleiste in der beliebten oberbayerischen Urlaubsregion auf dem Weg von Garmisch nach München. Foto: Angelika Warmuth/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Feuerwehr und Polizei arbeiten an der Rettung von Verletzten.
awa sei, dpa, Angelika Warmuth
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Aus Schockstarre wird Fluchtinstinkt

Es ist schwer zu sagen, wie lange es gedauert hat, bis wir stehen bleiben. Zwar sind sind wir nicht völlig umgekippt. Der Lage des Gepäcks nach zu urteilen war jedoch klar, dass wir eine massive Schräglage haben müssen. Kippen wir also vielleicht doch noch? Aus Schockstarre wird bald Fluchtinstinkt, nichts als raus hier. Dass die nachfolgenden Minuten halbwegs ruhig und zielgerichtet verlaufen, ist meiner Meinung nach vor allem einem jungen Soldaten der Bundeswehr zu verdanken. Es war wohl Zufall, dass er und viele seiner Kameraden mit an Bord waren. Jetzt erweisen Sie sich als Segen: Ruhig aber bestimmt übernimmt er das Kommando, hilft anderen dabei die Fenster einzuschlagen, da die Türen nicht mehr zu funktionieren zu scheinen.

Nach und nach verlassen wir den Zug durch die durchbrochenen Scheiben. Mein Diensthandy ist mir aus der Hand gefallen, der Verbleib meines Koffers erstmal völlig egal. Erst als ich das gekieste Gleisbett betrete, sehe ich das Ausmaß des Schadens. Während der vordere und hintere Teil des Zugs quasi unbeschadet wirkt, sind zwei Waggons umgekippt. Zu meiner ersten Erleichterung, als ich sehe, dass nicht nur ich, sondern auch die anderen Reisenden meines Abteils den Zug zumindest ohne schwere Verletzungen zu verlassen scheinen, mischt sich schnell die bittere Erkenntnis: Viele andere werden hier offenbar weniger Glück gehabt haben.

Junge Mädchen telefonieren weinend mit ihren Eltern, andere starren nur fassungslos auf die Unfallstelle. Auch der Verkehr auf der Autobahn scheint zum Erliegen zu kommen. Mit vereinten Kräften versuchen wir den anderen Passagieren beim Rausklettern zu helfen. Dazwischen klingele auch ich bei meiner Familie durch: Mein Zug ist entgleist, mir geht es soweit gut, nach Köln werde ich nicht mehr reisen.

Nach Zugunglück in Bayern: Helfer suchen nach Vermissten

Auf einmal sitzen wir auf einer Mülldeponie zwischen Altpapier und Unrat

Irgendwie hat es auch mein Koffer aus dem Waggon geschafft. Ich vermute auch hier war es der Soldat. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, hat er den Waggon als letzter verlassen.

Nachdem die ersten Einsatzkräfte eingetroffen sind, werden wir zu einer Mülldeponie evakuiert. Da sitzen wir nun zwischen Altpapier und anderem Unrat. Es werden Bierbänke aufgebaut und Verletzte behandelt. Im Minutentakt treffen Einsatzkräfte ein, die Polizei nimmt Personalien auf, Sanitäter rennen mit Verbandsmaterial umher. Seelsorgerinnen fragen sensibel nach unserem Befinden, trösten weinende Menschen.

Das Gefühl, gut umsorgt und aus dem Gröbsten raus zu sein, mischt sich mit dem Krach der ankommenden Rettungshubschrauber und der Gewissheit, dass es etliche Schwerverletzte gegeben hat.

Während ich auf meinem Handy erste Pressemeldungen lese, in der Hoffnung, endlich zu verstehen, was passiert ist, wird mir erst ganz langsam klar, was für ein Glück ich hatte. Bis auf einen schmerzenden Fuß und ein paar Schürfwunden an den Armen und am Rücken bin ich völlig unverletzt. Auch psychisch geht es mir gut.

Während ich, mit Erlaubnis der Polizei, darauf warte abgeholt zu werden, steigt die Zahl der Toten und Verletzen laut Medien immer weiter. (lha)