Das sagt der Kinder- und Jugendpsychologe
Video zeigt brutale Schulhof-Schlägerei: Werden Kinder und Jugendliche immer gewalttätiger?
Die Szene, gefilmt von einer Handykamera, ist kurz. Wenige Sekunden nur und ein Junge geht zu Boden. Der Schlag hat ihn direkt auf die linke Wange getroffen, der 14-Jährige bleibt bewusstlos liegen, er rührt sich nicht mehr. Die rohe Gewalt, die hier auf einem Schulhof der Gesamtschule Xanten-Sonsbeck eskaliert, ist schockierend und die Frage bleibt: Werden Jugendliche immer brutaler?
Gefühlte Brutalisierung
In Mülheim an der Ruhr wurde eine junge Frau von Kindern vergewaltigt, in Wuppertal ein Rentner von zwei 14-Jährigen ins Koma geprügelt. In Essen hat eine Gruppe Jugendliche einen Mann erst verprügelt und dann ins Gleisbett einer U-Bahn geschubst. Der Haupttäter ist gerade mal 14 Jahre alt. Auch Leon Hoffmann war erst 14 als ihn ein Mitschüler (16) an der Käthe-Kollwitz-Schule in Lünen ersticht. Es sind Fälle wie diese, die betroffen machen. Fälle, die ob ihrer Brutalität schockieren - besonders, weil die Täter extrem jung sind.
Die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen nimmt zu, die Fälle scheinen sich an Grausamkeit zu überbieten. So zumindest der Eindruck. Doch stimmt das auch? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut Kriminalstatistik nehmen die Straftaten im Bereich der Jugendkriminalität ab. Waren es 2004 noch 297.087 tatverdächtige Jugendliche zwischen 14 und 18 sank die Zahl bis 2018 auf 177.431. Fälle von Körperverletzung nahmen 2018 im Vergleich zu 2017 ebenfalls ab.
Doch wie passen die Zahlen mit den verstörenden Nachrichten zusammen, die uns beinahe täglich erreichen? "Wir sprechen von einer gefühlten Brutalisierung", sagt Kinder- und Jugendpsychologe Dr. Christian Lüdke. "Die Medien berichten mehr und schneller über Einzelfälle. Besonders auch die Bilder führen dazu, dass man subjektiv das Gefühl hat, es wird mehr und es wird brutaler."
Kindern fehlen "Rahmen und Regeln für ihr Verhalten"
Wer sich die Nachrichten anschaut - jetzt wieder aus Xanten - stellt sich unweigerlich die Frage, was in den Köpfen dieser Kinder vor sich geht? "Der Ursprung sind immer fehlende Bindungsbeziehungen in den Elternhäusern, unsichere Zukunftsperspektiven und Erfahrungen, die Kinder frühzeitig machen, die für ein Kind nicht die richtigen sind", sagt Sozialarbeiter Thomas Sonnenburg. Den Kindern fehlen heute "der Rahmen und die Regeln für ihr Verhalten". "Früher waren Eltern sehr viel reglementierter gegenüber den Kindern - heute ist das lockerer, toleranter, alternativer." Das alles führe dazu, dass Kinder unsicherer und unkontrollierter aufwachsen.
Dr. Lüdke erklärt: "Bei Gewalt geht es immer darum, das Gefühl von Ohnmacht in Macht und Kontrolle zur verwandeln. Aber es ist der falsche Weg, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten." Auch die Risikobereitschaft junger Menschen nehme zu. Lüdke spricht vom Dominanzverhalten unter Jugendlichen, vor allem Jungs. Das kenne er aus seiner eigenen Praxis. "Ich habe mich um Familien gekümmert, wo sich Kinder vor einfahrende Züge geworfen haben, um ein Selfie zu machen", so der Psychologe. Die Kinder und Jugendlichen sehnen sich nach Aufmerksamkeit, die im realen Leben fehle. Likes und Kommentare in den Sozialen Medien können dabei regelrechtes Suchtpotential entfalten. Und um diese Resonanz zu bekommen, greifen Kinder zu oft "drastischen Maßnahmen". "Ein Patient brachte es einmal auf den Punkt. Er sagte: Im echten Leben bin ich ein Niemand, aber im Internet bin ich ein Jemand."
Wehrt euch! Lass dir nichts gefallen! Sag Stopp!
Was können Eltern tun, die merken, dass ihr Kind bedroht, attackiert, gemobbt wird? "Bildung ist das Zauberwort in der Gewaltprävention", sagt Kinderpsychologe Lüdke. "Eltern sollten ihrem Kind mit auf den Weg geben: wehrt euch! Lass dir nichts gefallen! Sag Stopp! Hör auf! Lass mich in Ruhe!" Es gehe darum, Anti-Opfersignale zu erlernen, selbstbewusst aufzutreten und sich nichts gefallen zu lassen. "98 Prozent aller Mädchen, die sich zur Wehr setzen, kommen unbeschadet aus einer bedrohlichen Situation heraus."
"Deutschlands kriminelle Kinder" - die Doku auf TVNOW
Sie klauen, schlagen, vergewaltigen - und sind manchmal erst 12 Jahre alt: kriminelle Kinder in Deutschland. Jugendamt und Behörden scheinen machtlos, Angehörige schlagen Alarm, betroffene Eltern sind besorgt. Und wandern die Jugendlichen doch mal in den Knast, wird es meist nur noch schlimmer. Aber wie schlimm ist die Lage wirklich? Und vor allem: Was können wir dagegen tun? Die Doku "Deutschlands kriminelle Kinder" gibt es auf TVNOW.