„Team Wallraff“: Soll so gute Integration funktionieren?
„Lauf gegen die Wand, ey!“ - Erzieherinnen lästern über Kind mit Förderbedarf
Kinder mit erhöhtem pädagogischen Förderbedarf gut zu integrieren, bedarf ausreichend Personal, einer entsprechenden Ausbildung und viel Engagement. Das Bild, das sich „Team Wallraff“-Reporterin Alesia bei ihrem Undercover-Einsatz in einer Integrations-Kita in Süddeutschland zeigt, ist aber vielmehr vom Gegenteil gezeichnet: Teilweise zu wenig Personal, das über entsprechende Fortbildungen verfügt, und jede Menge Überforderung. Ist gute Förderung manchmal reines Glücksspiel?
Wie gut wird sich wirklich um Kinder mit Förderbedarf gekümmert?
In der Kita-Gruppe, in der Reporterin Alesia im Sommer 2022 ihr Undercover-Praktikum macht, werden insgesamt 14 Kinder betreut, darunter drei mit besonderem Unterstützungsbedarf. Durch kleinere Gruppen sollen Erzieherinnen und Erzieher mehr Zeit bekommen, um sich um die Integrationskinder zu kümmern. Klingt erst mal gut – doch wie sieht das im Alltag aus?
Während ihres Praktikums fällt Alesia vor allem ein Junge auf: Matteo* ist schon etwas älter und größer als die anderen Kinder. Laut den Erziehern soll er eine ausgeprägte Entwicklungsverzögerung haben und sei darum herausfordernd im Kita-Alltag. Bis vor kurzem konnte er angeblich nicht einmal sprechen.
Mehrfach hat Alesia den Eindruck, dass er es vor allem bei Mitarbeiterin Anja* schwer hat. Als Kinderpflegerin soll sie die Erzieherinnen und Erzieher im Alltag unterstützen. Durch ihren strengen Umgangston wirkt es auf Reporterin Alesia aber eher so, als wisse sie nicht genau, wie sie mit den Integrationskindern umgehen soll.
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Sonderpädagoge: „Kinder übernehmen sehr viel von dem, was wir ihnen als Erwachsene präsentieren“
Alesia beobachtet, wie Anja Matteo mehrfach beim Essen maßregelt, als er sich einen Nachschlag holen möchte oder er ihrer Meinung nach zu schnell isst: „Matteo, reiß dich zusammen! Du weißt genau, dass du bei mir den Kürzeren ziehst“, heißt es unter anderem.
Prof. Dr. Timm Albers ist Experte für den fachgerechten Umgang mit Kindern, die besonders gefördert werden müssen. Für den Sonderpädagogen ist das keine angemessene Ansprache: „Diese abwertenden Äußerungen der Fachkraft führen dazu, dass Matteo für sich das Bild annimmt: Er ist unwürdig, er ist wenig wert. Und die Kinder übernehmen sehr viel von dem, was wir ihnen als Erwachsene präsentieren. Das heißt in der Konsequenz wird es dazu führen, dass er von seinen Gleichaltrigen ausgeschlossen wird.“
„Team Wallraff“ hat die Kita gefragt, ob Integrationskinder laut gemaßregelt werden. Der Träger schreibt uns:
„In dem von Ihnen genannten Zeitraum Juli bis September 2022 sind uns keine Elternbeschwerden bekannt. Auch ist uns nicht bekannt, dass es zu diesem Thema jemals Beschwerden bei uns gab. […] Selbstverständlich lehnen wir jegliche Gewalt gegen Kinder grundsätzlich ab.“
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Experte: „Man merkt hier ganz deutlich, dass die Fachkraft nicht versteht, wie Matteo handelt“
Wie schnell man an seine Grenzen kommen kann, merkt auch Reporterin Alesia an einem Tag, an dem die Kita-Kinder draußen spielen. Matteo scheint heute besonders wild und frech zu sein, nimmt einem Mädchen eine Pferdeleine weg und dreht wiederholt den Wasserhahn auf, obwohl er das nicht soll. Als es schließlich Essen gibt, sollen alle Kinder hineinkommen.
Weil Matteo anscheinend schmutzige Hände hat, greift Kinderpflegerin Anja ihn zunächst am Kopf, dann am Arm, um ihn zum Wasserhahn zu bringen. Matteo gefällt das gar nicht, er versucht sich wohl zu wehren und holt mit dem Arm aus. Mit der schmutzigen Hand trifft er Anjas Kleid am Bauch. „Ey, sag mal! Spinnst du ein bisschen? Was soll das, Matteo?“, schreit Anja den Jungen an.
„Man merkt hier ganz deutlich an der Situation, dass die Fachkraft nicht versteht, wie Matteo handelt“, erklärt Albers. Weil Matteo erst so spät sprechen gelernt hat, habe er sich ganz anderes entwickelt als andere Kinder.
„Er hat es nicht gelernt, seine Bedürfnisse sprachlich auszudrücken. Und entsprechend wird dieses Verhalten sanktioniert in der Hoffnung, dass er sich dann so verhält, wie die Erwartung ist. In diesem Beispiel wird deutlich, dass eine allgemeine Überforderung stattfindet. Pädagogen fehlen. Therapien fallen aus. Und das erklärt, warum Fachkräfte so reagieren, wie sie reagieren“, so der Sonderpädagoge weiter.
„Team Wallraff“ hat gefragt, ob Kinder teilweise körperlich angegangen und z. B. am Arm gezogen werden. Dazu der Träger der Kita:
„Nein! Es gibt bei uns grundsätzlich keine körperliche Gewalt gegen Kinder.“
Und weiter: „In unserer Einrichtung arbeiten Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen mit erfolgreich abgeschlossener Berufsausbildung.“
Erzieherinnen über Mutter von Integrationskind: „Das Weib ist sowas von brunzpieselblöd“
Auch Deniz* hat Förderbedarf. An einem besonders warmen Tag fragt er die Erzieherinnen beim Spielen draußen wiederholt, ob er Wasser zum Nassspritzen bekommt. Weil er erkältet ist, hat das seine Mutter aber offenbar verboten. Für die beiden Erzieherinnen scheint das Grund genug zu sein, über die Mutter herzuziehen: „Das Weib ist sowas von brunzpieselblöd. So viel Blödheit auf so wenig Quadratmetern“, lästert eine der beiden.
Als Deniz schließlich erneut fragt, ob er Wasser bekommt, ärgert das die Erzieherinnen offenbar so sehr, dass sie ihn deutlich lauter ermahnen: „Nein, du darfst kein Wasser, hat die Mama gesagt. Mann, Deniz! Hör zu, was wir sagen!“
Und dann, als Deniz glücklicherweise nicht mehr zuhört: „Der ist ganz die Mutter. Lauf gegen die Wand, ey.“
Sonderpädagoge Albers bewertet die Situation kritisch: „Das ist natürlich in keinem Fall die passende Ansprache. Es ist so, dass die Familie herabgewürdigt wird, das hört der Junge zwar nicht, aber diese Kommentierung seiner besonderen Rolle in der Einrichtung werden andere Kinder mitbekommen und das führt zu einer weiteren Verbesonderung. Das ist für sein eigenes Selbstbewusstsein höchst schädlich.“
Der Träger der Kita schreibt „Team Wallraff“:
„In unserem Haus wird generell nicht über Eltern bzw. Angehörige gelästert. So etwas gehört sich nicht. Zum Wohle der Kinder sind wir stets um ein partnerschaftliches Erziehungsverhältnis bemüht.“
Und weiter: „Äußerungen wie von Ihnen angeführt empfinden wir als unverschämt und menschenverachtend. Somit halten wir Verlautbarungen dieser Art sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld für absolut unangemessen und inakzeptabel.“
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Experte: Fehlende Förderunterstützung ist „fatal“ für die Entwicklung
Wie überfordert die Erzieherinnen mit den Integrationskindern sind, erkennt auch Anja selbst: „Dadurch, dass wir wirklich kein Fachpersonal sind. Das ist weder Marie noch bin ich es – wirklich für I-Kinder geschult. Eigentlich bräuchte der Matteo fünf Tage die Woche die Betreuung, dass er wirklich speziell gefördert wird und dass man auf ihn eingeht. Und das können wir aber so einfach nicht bieten“, erzählt sie Reporterin Alesia.
Das Problem: Theoretisch sollten die Integrationskinder Förderunterstützung bekommen. Wöchentlich soll deswegen eine Ergotherapeutin, eine Logopädin und eine Heilpädagogin in die Kita kommen. Während des zweiwöchigen Praktikums von Reporterin Alesia scheint das aber nur einmal vorgekommen zu sein. Der Grund seien Krankheitsfälle, so eine Erzieherin. Ersatz scheint es nicht zu geben.
Laut Albers sei das fatal für die Entwicklung: „In dem jungen Altersbereich zwischen null und sechs Jahren liegen so wichtige Meilensteine der Entwicklung, die durch Therapien gut unterstützt werden können“, erklärt der Sonderpädagoge. Fallen diese aus, gehe sehr viel an Potenzial verloren.
Offenbar kein Einzelfall: „Das ist ein grundlegendes Problem, das wir in Kitas spüren“, so Albers weiter. „Gerade heilpädagogische Fachkräfte fehlen, therapeutische Fachkräfte fehlen. Das heißt: Stellen können nicht besetzt werden und Kinder bekommen nicht das therapeutische Angebot, was sie benötigen.“
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Der Träger der Kita schreibt „Team Wallraff“, alle Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen hätten während ihrer Ausbildung Fachwissen in Pädagogik, Psychologie und Heilpädagogik erworben.
Und weiter: „In unserem […] Verbund […] hat das Thema der Fort- und Weiterbildung einen sehr hohen Stellenwert. Im Rahmen des Anstellungsvertrages verpflichtet sich jeder Mitarbeitende, sich regelmäßig weiterzubilden, was hohen Zuspruch findet.”
„Das Personal für die Therapiestunden wird von der Frühförderstelle angestellt und an die Kita entsandt. Unabhängig von den wöchentlichen Therapiestunden fördern wir die Kinder täglich im Freispiel und durch gezielte Förderangebote. Auf Grund der durch unseren Träger bei Personalmangel eingesetzten mobilen Reserven, sind wir so gut wie immer in der Lage, diese tägliche Förderung zu gewährleisten.“
Reporterin Alesia hat den Eindruck, dass es manchmal wie reines Glückspiel scheint, ob Integrationskinder in einer Einrichtung aufblühen können oder ob sie vergessen werden. Vor allem für diese Kinder ist Unterstützung in der Kita aber so wichtig – denn wie ihre Zukunft aussehen kann, wird bereits hier mitentschieden.
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Video-Playlist zu „Team Wallraff"
„Team Wallraff – Reporter undercover“ auf RTL+
Die ganze Reportage von „Team Wallraff – Reporter undercover“ sehen Sie am Donnerstag um 20.15 Uhr bei RTL und anschließend zum Abruf auf RTL+. (akr)
*Namen von der Redaktion geändert