„Mein Sohn könnte noch leben!“

Polizei-Panne bei Hanau-Anschlag: Kein Durchkommen für späteres Opfer

Hanau-Anschlag: Kein Durchkommen für späteres Opfer „Mein Sohn könnte noch leben!“
05:12 min
„Mein Sohn könnte noch leben!“
Hanau-Anschlag: Kein Durchkommen für späteres Opfer

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Fast ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau, steht die Frage im Raum, ob ein nicht erreichbarer Notruf Menschenleben gekostet hat. Am 19. Februar 2020 wurden neun junge Menschen von einem Rassisten erschossen.

Eine Stunde keine Notrufe?

Als um 21.55 Uhr am Hanauer Heumarkt drei Menschen erschossen wurden, wählten Zeugen die 110. Schnell war auch die Polizei vor Ort. Doch nur wenige Minuten später war beim Notruf kein Durchkommen mehr. Vili Viorel Paun verfolgte mit seinem Auto sogar noch den Täter bei seiner Flucht von der Innenstadt Richtung Kesselstadt. Während dieser Fahrt wollte er die Polizei warnen und den aktuellen Standort des Täters durchgeben. Es kam keine Verbindung zustande. Angekommen in Kesselstadt wurde der junge Mann in seinem Fahrzeug erschossen.

„Mein Sohn könnte noch leben“, sagt Vilis Vater Niculescu Paun. Dass in der Hanauer Kriminaldirektion nur eine der beiden Notrufplätze besetzt war, ergeben Recherchen von Monitor und dem Spiegel. RTL liegen die Protokolle der Notrufe vor: Seit der Tat bis kurz nach Mitternacht waren lediglich 24 Notrufe eingegangen, von denen zehn nicht aufgezeichnet werden konnten. Zwischen 22.09 Uhr und 23.13 Uhr, also unmittelbar nach den tödlichen Schüssen am Kurt-Schumacher-Platz, wurden keinerlei Notrufe notiert. „Ein Systemfehler sei nicht auszuschließen“, heißt es in den Dokumenten der Polizei.

Vater von Vili Viorel Paun: „Er wollte eine Familie gründen.“

Hanau, Niculescu Paun zu seinem Sohn Vili Viorel Paun
Vili Viorel Paun wollte eine Familie gründen
RTL

Vili steht mitten im Leben. Sein Vater ist stolz, auf alles, was er macht. Sein einziger Sohn, er schwärmt von seiner Freundin und träumt davon eine eigene Familie zu gründen. Niculescu Paun, der Vater von Vili Viorel Paun erinnert sich: „Er sagte zu mir: Papa, ich war alleine. Und nun mache ich vier Kinder und wir machen das so – die Kinder nimmst du bis zum Kindergarten. Und ich sagte: Ja, ich mache das gerne.“

All diese Pläne sind für Vater Niculescu Paun zerstört.

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Verfolgungsjagd durch Hanau

Hanau, Niculescu Paun zu seinem Sohn Vili Viorel Paun
Der Mercedes von Vili Viorel Paun
RTL

19. Februar 2020. Gegen 21:55 Uhr beginnt der Täter seinen tödlichen Weg über den Hanauer Heumarkt. Den Gang hat er akribisch geplant. Später finden Polizisten bei ihm eine Skizze des Viertels: Sie zeigt das mörderische Vorhaben, die Lokale sind markiert. Hier erschießt er drei Menschen.

Der Täter rennt weiter zum nächsten Lokal. Dort begegnen sich der Täter und Vili Viorel Paun, der mit seinem Auto vorbeigefahren kommt. Der Täter schießt auf das Auto von Vili. Dieser fährt mit seinem Wagen rückwärts und nimmt die Verfolgung auf. Der Täter springt in sein Auto, beide rasen Richtung Hanau-Kesselstadt. Währenddessen versucht Vili immer wieder die Polizei zu rufen, doch er kommt nicht durch.

„Ein Systemfehler kann nicht ausgeschlossen werden.“

Die Verfolgungsjagd von der City bis nach Kesselstadt endet am Kurt-Schumacher-Platz, dort wird Vili in seinem Wagen erschossen. Sein Mercedes wird zum Symbol dieses Anschlags.

In der Polizeidirektion sind derweil zwar drei erste Notrufe vom Heumarkt eingegangen, wohin aber der Täter fährt, davon haben die Beamten keine Kenntnis. Unterlagen, die RTL vorliegen, legen den Verdacht nahe, dass hier etwas schiefgelaufen ist: 24 Mal wurde der Notruf gewählt, aber es gibt Pannen: Zum einen funktioniert die Sprachaufzeichnung nicht, und dann gibt es - und das ist das erstaunliche - eine Pause: Von 22:09 bis 23:13 Uhr mehr als eine Stunde soll niemand den Notruf gewählt haben. Im Bericht heißt es dazu: „Ein Systemfehler kann nicht ausgeschlossen werden.“

Hätten Opfer gerettet werden können?

Hanau, Niculescu Paun zu seinem Sohn Vili Viorel Paun
Niculescu Paun gedenkt seinem Sohn Vili Viorel Paun
RTL

Über eine Stunde kein Anruf? Hätte Vili die Polizei zum zweiten Tatort lotsen und so den Mord an fünf weiteren jungen Leuten verhindern können? Es sind quälende Fragen, und der Ruf nach Aufklärung wird immer lauter. Aus dem Kreis der Behörden heißt es man ermittle.

Niculescu Paun hat das Vertrauen verloren. Er dachte, sich in Deutschland sicher zu fühlen. Er wirft sich vor, mit Vili hergekommen zu sein: „Mein Sohn ist ein Held, mein Sohn ist ein richtiger Held, für diese Nacht, für diese Minute. Er hat alles versucht, er hat den Täter verfolgt, er hat die Polizei gerufen, er hat den Notruf gerufen, 110!“

Der Anruf bei der Polizei, er hätte Vili und die Menschen am zweiten Tatort retten können. Diese quälende Ungewissheit, sie lässt Vilis Vater kaum schlafen. Umso mehr setzt er auf Aufklärung, echte Ermittlungen, und vielleicht eine Entschuldigung für dieses mögliche Versagen.