"Momente, in denen in der ganzen Stadt kein RTW verfügbar ist"Notfallsanitäter am Limit: Ein Tag im Rettungswagen in Berlin
6 Uhr – wir treffen Mario Busch (41), auf der Wache in der Voltairestraße in Berlin Mitte. Dass er sich so über die Schultern schauen lässt und auch die Feuerwehr das zulässt, liegt an den monatelang andauernden Hilferufen der Frauen und Männer der Berliner Feuerwehr. Normalerweise gibt es nur den Autoschlüssel für den Rettungswagen (RTW) in die Hand, bevor der erste Einsatz reinrauscht. Doch heute ist sogar Zeit mir die dramatische Situation zu erklären. „Wir haben als Mitglieder der Gewerkschaft der Polizei (GdP, Anmerkung der Redaktion) schon seit 2018 gewarnt: Es geht so nicht mehr weiter!“
Kapazitätsgrenzen der Notfallsanitäter seit Jahren gesprengt
Gemeinsam mit dem Hauptpersonalrat, Kollegen der Deutschen Feuergewerkschaft und vielen anderen standen sie 2018 mit brennenden Tonnen demonstrierend vor dem Roten Rathaus. Doch die Lage sei schlimmer geworden, so Mario Busch: "Seit Jahren sagen wir, dass wir die Kapazitätsgrenzen gesprengt haben. Damals haben wir gesagt, dass wir ausgebrannt sind, jetzt ist es so, dass wir verglüht sind." Busch erklärt mir das mit ernster Stimme und man merkt dennoch: Er liebt seinen Job.
Der erste Alarmruf erreicht das Team heute um 8.50 Uhr „Ist ewig nicht passiert, wir konnten das Fahrzeug putzen und alles auffüllen, ist anscheinend der Vorführeffekt, weil RTL dabei ist“, lacht Mario Busch. Was wir da noch nicht wissen: Wir werden die nächsten 10 Stunden ununterbrochen unterwegs sein.

RTL-Reporterin begleitet Rettungswagen einen Tag lang durch Berlin
Unser 1. Einsatz, ein betrunkener Mann in Mitte: Noch sind wir pünktlich in der gewünschten Anfahrtzeit unter zwölf Minuten an der Leipziger Straße in Mitte. "Als wir eingetroffen sind, hat er sich nicht als Notfallpatient dargestellt. Wir haben ihn jetzt hier im RTW untersucht, konnten nichts feststellen. Kein Notfallpatient, deshalb nicht ins Krankenhaus, er ist nichts für die Rettungsstelle", so das Fazit von Busch. Kurz vor der Rückkehr zur Wache kommt der nächste Alarmruf.
2. Einsatzort Ostbahnhof, Sturz: Eine Frau ist auf dem Gehweg gefallen. Der Rettungswagen fährt mit Sonderrechten, also Blaulicht. Wir folgen mit unserem Teamfahrzeug, halten uns aber an die Verkehrsregeln. Also Stopp an jeder roten Ampel. Als wir ankommen, wird die Frau mit Kopfwunde längst behandelt und es folgt ihr Transport in die nächste noch freie Notaufnahme nach Friedrichshain. „Das muss abgeklärt werden. Diese Fahrt muss sein“, so Buschs Einschätzung. Die Patientin wird in der Rettungsstelle übergeben. Das RTW-Team schaltet sich auf 1 – das heißt: einsatzbereit.
Nächster Einsatz: Kind mit Schmerzen am Reichstag
Es ist jetzt gegen 10:15 Uhr und wir merken: Es wird ein warmer Tag, aber noch sind die 30 Grad nicht erreicht, meine große Flasche Wasser aber schon halb leer. Wir sind noch nicht mal aus der Einfahrt der Notaufnahme raus, da heißt es:
3. Einsatz am Reichstag, Kind mit Schmerzen. Es stellt sich raus: Eine Schülerin auf Klassenfahrt hat seit Tagen Rückenschmerzen. Heute ruft der Lehrer die 112 an. Doch weil alle näheren Kinderrettungsstellen sich „abgemeldet“ haben, weil sie voll sind, müssen wir jetzt in den Wedding fahren. Da es kein Notfall ist, geht es ohne Blaulicht weiter: Das Krankenhaus ist 25 Minuten Fahrt entfernt – Zeit, in der die Sanitäter einem Notfallpatienten hätten helfen können.
"Wenn sie sich vorstellen, sie bekommen keine Luft, dann ist wirklich die Frage: Wie lange können Sie die Luft anhalten? Schaffen Sie die 20 Minuten, bis der Rettungswagen da ist oder nicht? Das ist eine Situation, die ist nicht tragbar. Und es gibt diese Momente, in denen in der ganzen Stadt gar kein Rettungswagen verfügbar ist."

Berliner Notfallsanitäter: "Das ganze System ist krank und überlastet"
Wir warten vor der Klinik auf der Straße auf die Rückkehr von Mario Busch und Kollege Sascha und schauen bei Rückkehr in entsetzte Gesichter. „Das hat selbst uns jetzt wirklich sprachlos gemacht“, sagen sie. „Die einzige Klinik, die jetzt gerade Kinder aufnehmen kann, ist besetzt mit einer Krankenschwester und die hat Migräne. Die hat sich ein Auge vor Schmerz zugehalten, drumherum Babygeschrei. Da war noch eine weitere Unterstützung. Das war’s. Das ganze System ist krank und überlastet!“ Jetzt wartet da auch die Schülerin in dieser Notaufnahme.
4. Einsatz Müller Straße, Wedding: Blaulicht ein, so ernst wirkt der Einsatz. „Ein sozialer Fall“, meint Busch anschließend. Ein älterer, wie sich rausstellt, psychisch erkrankter Mann, der erst heute Morgen aus einer Klinik entlassen wurde. Er sollte ein Zimmer beziehen, hat aber seine Rente noch nicht. Jetzt sitzt er hier vor einem türkischen Lebensmittelladen, wo man ihn mit Wasser und einem Stuhl versorgt hat: „Wir werden wieder Taxi.“
Eine Rettungswagenfahrt kostet 320 Euro
Dieses „Taxi“ kostet übrigens 320 Euro, ein Krankentransport keine 100 Euro. An dieser Stelle frage ich mich: Wenn Bürger die 112 rufen und nachfragen: Wie kann man da helfen? Wieso wird dann so oft und fast immer ein Notfallsanitäter geschickt?
Die Sanitäter in Berlin schlagen deshalb Alarm. Mario Busch und seine Kollegen von der Gewerkschaft GdP fordern auch, das Rettungsprotokoll zu ändern. Denn fallen bestimmte Stichworte während des Notrufes, MUSS der Rettungswagen ausrücken. Zu viele Fälle für zu wenig Personal.
„Patienten nicht angetroffen“. Allein in Berlin endeten bis Juni 2022 13.000 Notfalleinsätze mit diesem Satz. Die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft Berlin-Brandenburg fordert deshalb die Einsätze im Anschluss endlich auszuwerten.

Berlin im Ausnahmezustand: Kaum noch Rettungswagen verfügbar
5. Einsatz, unklare Brustschmerzen in Friedrichshain: 12:30 Uhr – wir befinden uns im Ausnahmezustand. In Berlin jetzt sind wieder 80 Prozent der RTW im Einsatz. Die Fahrt geht nach Friedrichshain – umsonst. Der junge Mann schiebt sich, mit Fahrrad, selbst zum Arzt. „Wir möchten ja unbedingt das alle, die Hilfe brauchen, auch anrufen. Ich möchte nicht, dass die ältere Frau, deren Mann womöglich einen Schlaganfall hat, wegen der derzeitigen Berichte zur Notsituation nicht anruft. Die sollen bitte die 112 wählen“, mahnt Busch.
Mittlerweile haben wir die 33 Grad erreicht und nicht nur Busch und Kollege Sascha müssen was gegen die Hitze tun. Plötzlich steht die Motorhaube offen. „Die Sirene macht gerade Mucken. Ist ihr zu heiß“, so Sascha: Bevor sich die beiden wieder auf 1 stellen, also auf Bereitschaft, holen wir schnell alle im Supermarkt nebenan Wasser. „Ich bekomme langsam Hunger“, sage ich. Die grinsen: „Noch gibt es Hoffnung auf ein Mittagessen in der Wache. Dort kochen die Kollegen der Löschfahrzeuge, wenn Sie Zeit haben: „Wir haben mal Essen für Euch mitbestellt. Mal sehen, ob Zeit dafür bleibt.“
13:15 Uhr – Kaum setzen sich die Männer auf 1, kommt der Ruf nach Köpenick und gleichzeitig die Nachricht. Nur noch ein RTW für ganz Berlin verfügbar – unserer!
Patientin mit Atemnot: Einziger verfügbarer RTW ist 25 Minuten entfernt
6. Einsatz, Sturz aufs Gesicht, Atemnot: Jetzt fahren wir deshalb von Friedrichshain nach Köpenick (Entfernung: 19 Kilometer, Fahrzeit RTW: 25 Minuten). Für die Rettung von Menschen soll die Zeit, bis der Rettungswagen eintrifft, nicht länger als zehn bis zwölf Minuten dauern. Das wird nicht klappen. 25 Minuten lang müssen jetzt andere Autofahrer, Fußgänger und andere auf Berlins Straßen auch besonders achtgeben und notfalls ausweichen.
Damit eine womöglich lebensgefährlich verletzte Frau rechtzeitig Hilfe bekommt, wird der Notarzt per Rettungshubschrauber geschickt. Denn die anderen Notarztwagen der Stadt sind alle unterwegs. Die Polizei sperrt eine Wiese für den Hubschrauber ab. Außerdem wird, weil schneller vor Ort, ein Löschfahrzeug mit vier Mann Besatzung vorgeschickt. Ein Löschfahrzeug hat auch immer Sanitäter an Bord.
Die gestürzte Frau mit Nasenbeinbruch muss in eine HNO-Abteilung gebracht werden.
Die hat ein Krankenhaus in Neukölln - wieder 13 Kilometer Anfahrt. Die Aufnahme dauert ganz schön lange, finden wir. Die Erklärung unseres Teams: „Die Notaufnahme hatte keine Tragen mehr. Die RTW standen Schlange und letztendlich mussten wir die Frau auf einen Stuhl in den Warteraum setzen.“ Ausnahmezustand überall! Es geht im gleichen Tempo weiter.

An Mittagessen für die Sanitäter ist nicht zu denken
Rettungseinsatz Nummer 7, Alt-Glienecke, Körperverletzung: Kein Transport ins Krankenhaus – der Junge geht mit seiner Mutter in die Klinik. Busch steht vor mir: „Ich bin echt durch mittlerweile. Langsam lässt die Konzentration nach. Zum Glück ist mein Fahrer fit.“ Es ist 15:45 Uhr. An die Fahrt zum Essen zurück in die Heimatwache ist nicht zu denken, denn 400 Meter entfernt wartet schon wieder Arbeit.
Einsatz Nummer 8, Gyn-Notfall: Eine hochschwangere Frau braucht Hilfe. Sie wird nach Neukölln in die Geburtsklinik gebracht – quer durch die Stadt. Es ist wieder ein „Krankentransport“. Die Frau hatte lediglich Sprachschwierigkeiten und war heute auch schon beim Arzt.
Einsatz Nummer 9 und 10: Es ist 16:45 Uhr. Wegen der besonderen, modernen Technik der RTW in Berlin sollen Mario Busch und Sascha einen Inkubator abholen und mit diesem dann ein Frühchen aus einem anderen Krankenhaus zurück in die Spezialklinik bringen. Der Inkubator muss erst in einem Krankenhaus am Südkreuz abholt werden. Das Baby liegt in Steglitz-Schöneberg. Von dort wird es dann ins Krankenhaus St. Josef am Südkreuz gebracht.
Für die Sanitäter ist das ein sehr versöhnliches Ende dieses Tages: "Das ist gerechtfertigt, hier geht es um das Leben eines kleinen Kindes. Das muss weiter behandelt werden an einem anderen Krankenhaus. Das kann jetzt hier nicht mehr gewährleistet werden. Deswegen dieser Transport. Ja, dafür sind wir da. Das ist unser Job."
Rettungswagen ist an einem Tag 135 Kilometer durch Berlin gefahren
19:10 Uhr – nach guten zehn Stunden unterwegs, haben wir 135 Kilometer quer durch Berlin hinter uns und erwarten die Rückkehr des RTW auf der Heimatwache in der Voltairestraße in Berlin-Mitte. Mario Busch und Sascha sind alle. Ihr nächster Dienst beginnt am nächsten Tag zur Nachtschicht.
An diesem Tag gab es in Berlin 1.623 Einsatzfahrten. Wie viele davon wirklich ein Notfalleinsatz waren, können wir nicht sagen. Bei uns noch nicht mal ein Drittel: „Sie können mir glauben, so wie diese Tage sind alle Tage. Wir haben mittlerweile jeden Tag Silvester“, so die Sanitäter.
Jetzt hat sich auch auf Druck der Öffentlichkeit der Innensenat eingeschaltet. Der zuständige Staatssekretär Torsten Akmann wird jetzt in einer Taskforce untersuchen lassen, wie und ob man die Protokollabfragen ändern kann, um unnötige Fahrten früher herauszufiltern und den Bürgern andere Hilfsangebote als die Fahrt im RTW machen zu können. Ein Hoffnungsschimmer.
Zu Essen war übrigens nichts mehr da. Es hätte Wraps mit Huhn gegeben.