Vor 15 Jahren in Portugal verschollen
Das sind die Theorien zu Maddie McCanns Verschwinden
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Von Tobias Elsaesser
„Auch wenn die Chance gering sein mag, haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Madeleine immer noch am Leben ist und wir wieder vereint sein werden“, teilten Kate und Gerry McCann am 22. April auf ihrer Internetseite findmadleine.com mit. Am 3. Mai 2022 ist es 15 Jahre her, dass die damals dreijährige Madeleine aus dem Kinderzimmer des Ferienappartements ihrer Eltern in Praia da Luz, Portugal, verschwand.
Steht der Fall endlich vor der Lösung?
Nie hat das Verschwinden eines Kindes weltweit so viel Aufmerksamkeit erregt. Und nach 15 Jahren, abertausenden Hinweisen, diversen angeblichen Sichtungen von Madeleine und verschiedenen Ermittlungsverfahren in Portugal, Großbritannien und Deutschland soll der Fall nun vor seiner Aufklärung stehen. Mitte April hat die portugiesische Justiz den Deutschen Christian B. offiziell zum Verdächtigen erklärt und beschuldigt. Es ist möglich, dass dieser formale Akt nur geschehen ist, weil der Fall sonst zu verjähren droht, allerdings ist auch die Braunschweiger Staatsanwaltschaft dieser Überzeugung und teilte bereits im Juni 2020 mit: "Wir haben einen beweisgestützten Verdacht, dass der Beschuldigte 43-jährige Deutsche Madeleine McCann getötet hat." Was ist bekannt über das, was am 3. Mai 2007 in Praia da Luz passiert ist? Und was haben die verschiedenen Ermittlungen in den 15 Jahren ergeben?
Portugal: 3-jährige Maddie verschwand aus Ferienwohnung
Am 28. April 2007 kamen die McCanns mit fünf Bekannten im portugiesischen Praia da Luz zu einem siebentägigen Urlaub in einem Ferienressort an, wo sie ein Ferienappartement in der Rua Dr Aghostino da Silva 5A bewohnten. Am Abend des 3. Mai um 20.30 Uhr gingen die McCanns – nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hatten – wie jeden Abend zum Essen in die Tapas Bar des Ressorts, rund 50 Meter Luftlinie von ihrem Appartement entfernt. Da ihre Freunde ebenfalls Kinder hatten, verabredete man, dass alle 20 Minuten jemand nach den Kindern schauen sollte. Bei ihrer Stippvisite gegen 22.00 Uhr fand Kate McCann das Bett von Madeleine leer vor. Ein Rollladen und ein Fenster, die vorher geschlossen waren, sollen offen gewesen sein. Die Polizei wurde informiert, während sich die McCanns, ihre Freunde und weitere Gäste der Ferienanlage auf die Suche nach dem Mädchen machten.
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Erster Verdacht gegen den Briten Robert Murat: Seine Hilfsbereitschaft wurde ihm zum Verhängnis
Die Ermittlungen zum Verschwinden Maddies standen unter keinen guten Vorzeichen. Die ersten Polizisten trafen kurz nach 23.00 Uhr ein, dabei handelte es sich um Angehörige der Guarda Nacional Republicana (GNR), diese alarmierten um Mitternacht die für Verbrechen zuständige Policia Judiciaria (JR), deren Beamte gegen 1.00 Uhr nachts eintrafen. Dies hatte zur Folge, dass der Tatort nur unzureichend gesichert und erst Stunden nach dem Verbrechen abgesperrt wurde. Hinzu kam ein rechtliches Problem, das der erste leitende Ermittler der JR, Goncalo Amaral, in der Netflix-Dokumentation „The Disappearance of Madeleine McCann“ so beschreibt: „Die Vorgehensweise ganz am Anfang war zwar nicht falsch, aber sie passte nicht. Warum? In Portugal reicht es nicht, wenn jemand nur verschwindet. Das allein ist noch kein Verbrechen. Deshalb kann die Ortspolizei keine Untersuchung veranlassen oder technische Maßnahmen ergreifen, wie Abhören oder Videoüberwachung – so würde man nur bei einem Verbrechen vorgehen. Das Verschwinden einer Person wird in Portugal noch immer nicht automatisch verfolgt“
Hinzu kamen Verständigungsprobleme – in einem fremden Land alltägliche Konversation zu betreiben, ist eine Sache, detailgetreue Fragen zu einem mutmaßlichen Verbrechen zu beantworten, eine ganz andere. Hilfe bot hier nach eigener Aussage der in Praia da Luz ansässige Brite Robert Murat an. Dies wurde ihm jedoch schnell zum Verhängnis. Einigen Medienvertretern kam der Mann merkwürdig vor, weil er die Nähe der McCanns suchte und die der Polizei. Es erinnerte an einen Fall aus England, bei dem sich der Täter als besorgter Helfer präsentiert hatte. Es wurden einige Nachforschungen und noch mehr Vermutungen angestellt, die dazu führten, dass Murat zum ersten „Arguido“ im Fall Maddie erklärt wurde. Auch wenn es das nicht ganz trifft, lässt sich das Wort „Arguido“ als „offiziell verdächtig und beschuldigt, aber noch nicht angeklagt“ erklären. Diese Spur lief jedoch ins Leere, und Murat ist mittlerweile juristisch voll rehabilitiert.
Die McCanns geraten selbst unter Verdacht
Dann gerieten die McCanns sogar selbst ins Visier der Ermittler. Die Berichterstattung über den Fall war enorm. Und die McCanns taten alles in ihrer Macht Stehende, dass das Interesse am Schicksal Madeleines nicht abebbte. Sie reisten durch Europa, gaben Pressekonferenzen und trafen sogar Papst Benedikt XVI. in Rom. Das stieß vielen übel auf, es passte nicht in das Bild, das Eltern in einer solchen Situation abgeben sollten. Nur welches Bild sollte das sein? Jedenfalls nicht das, welches die McCanns lieferten. Hinzu kam das von Beginn an angespannte Verhältnis zwischen portugiesischer Polizei und Madeleines Eltern. Verständigungsprobleme machten das Ganze noch schwieriger. Die McCanns waren der Überzeugung, die Polizei täte nicht genug. Die Polizei glaubte, die McCanns seien nicht aufrichtig. Ein weiteres Problem war das sogenannte „Verschwiegenheitsgesetz“. Sämtliche Ermittlungsergebnisse mussten von allen Beteiligten geheim gehalten werden – allerdings stach irgendjemand von der Polizei immer wieder gefilterte Informationen an die portugiesische Presse durch, diese wurden von der englischen Presse aufgenommen. Langsam kippte die Stimmung und der Tonfall der Berichterstattung gegen Kate und Gerry. Es gab viele Behauptungen und Vorwürfe, aber keinerlei Beweise. Die McCanns hätten ihre Kinder sediert, in der Folge sei Madeleine zu Tode gekommen. Unstimmigkeiten in den Aussagen der McCanns und ihrer Bekannten über die zeitlichen Abläufe des Abends wurden aufgrund geleakter Informationen von der portugiesischen Presse zu einem „Pakt des Schweigens“ aufgebauscht, angeblich hätten sie sich abgestimmt, Madeleines Tod zu vertuschen.
Fehlinterpretierte DNA-Spuren: Portugiesischer Chefermittler schießt sich auf McCanns ein
Die portugiesische Polizei forderte zwei Spürhunde des britischen Hundeführers Martin Grimes an, einer war auf das Aufspüren von Blut trainiert, der andere schlug bei Leichengeruch an. Beide Hunde gaben Alarm im Wohnzimmer des Appartements, aus dem Madeleine verschwunden war. Anschließend gab es Durchsuchungsbefehle für das Appartement, in dem die McCanns nach dem Verschwinden ihrer Tochter wohnten, und das Auto, das sie 24 Tage nach den Geschehnissen vom 3. Mai gemietet hatten. Beide Hunde schlugen bei der Überprüfung des Autos an, der Leichenhund außerdem im Appartement. Dies galt den portugiesischen Ermittlern als Beweis für die Verwicklung der Eltern in Madeleines Verschwinden, während Martin Grimes betonte, das Anschlagen der Hunde könne lediglich Grundlage für weitere Ermittlungsrichtungen, jedoch keine Beweise für einen Tathergang liefern. Es wurden DNA-Proben aus den Appartements und dem Auto genommen, die von einem Labor in England untersucht wurden. Das Ergebnis war wenig eindeutig. Das DNA-Material hätte von jedem Mitglied der McCann-Familie stammen können, ob es sich um Blut, Speichel oder andere Körperflüssigkeiten handelte, konnte nicht festgestellt werden. Da die McCanns ihren Wagen erst 24 Tage nach Madeleines Verschwinden gemietet hatten, ging die portugiesische Polizei um Chefermittler Goncalo Amaral nun davon aus, dass Madeleine am Abend des 3. Mai zu Tode gekommen war und Kate und Gerry die Leiche dreieinhalb Wochen aufbewahrt und dann entsorgt hätten. Das Ehepaar McCann wurde am 7. September 2007 zu offiziell Verdächtigen erklärt, an die portugiesische Presse wurde durchgestochen, die DNA-Proben würden zu 100 Prozent übereinstimmen, während es im Bericht des Labors hieß, die Proben seien nicht aussagekräftig, sie stammten von mindestens drei verschiedenen Personen, vielleicht sogar mehr. Man könne nicht mal sagen, ob die Übereinstimmung nicht sogar zufällig sei. Dass die McCanns direkt am nächsten Tag Portugal verließen und in ihre Heimat zurückkehrten, machte sie in den Augen der portugiesischen Ermittler nochmal mehr verdächtig. Die portugiesische Polizei hielt an ihrer Interpretation der DNA-Proben fest. Chefermittler Amaral ging sogar so weit, dass er in einem Interview behauptete, die britische Polizei würde die McCanns schützen, indem sie nur Spuren verfolgten, die Madeleines Eltern entlasteten. Daraufhin wurde Amaral am 2. Oktober als Chefermittler abgesetzt.
Amaral tritt nach Entlassung gegen Kate und Gerry McCann nach
Am 21. Juli 2008 wurden die Ermittlungen gegen Kate und Gerry McCann eingestellt, als der leitende portugiesische Staatsanwalt Fernando Jose Pinto Monteiro bekanntgab, dass es keine Beweise für eine Verwicklung der McCanns in das Verschwinden ihrer Tochter gäbe. Die Erleichterung darüber währte nur kurz. Drei Tage später veröffentlichte der gefeuerte Chefermittler Amaral sein Buch „Maddie: Die Wahrheit über die Lüge“, in dem er alle von ihm erhobenen Vorwürfe wiederholte und an seiner Theorie und seiner Interpretation der DNA-Proben festhielt: Die McCanns hätten die Geschichte über eine Entführung nur erfunden, um den selbst verschuldeten Tod ihrer Tochter zu verschleiern. In der Netflix-Dokumentation „The Disappearance of Madeleine McCann“ geht er sogar so weit, dass er behauptet, die McCanns hätten Schutz von oberster Stelle bekommen. Der damalige britische Premierminister Gordon Brown hätte nicht gewollt, dass die Wahrheit ans Licht kommt, damit kein schlechtes Licht auf britische Touristen fällt.
Weitere Ermittlungen: Wurde Maddie Opfer von Menschenhändlern?
In den folgenden Jahren gab es weitere Untersuchungen in dem Fall, zunächst privat, finanziert durch den Fond, den die McCanns nach Madeleines Verschwinden gegründet haben. Später kamen aber auch offizielle Ermittlungen dazu, wie die von Scotland Yard geführte „Operation Grange“ (2011-22) oder die aktuellen deutschen Ermittlungen gegen Christian B. Bei diesen Ermittlungen gab es verschiedene Theorien und Ansätze. Die spanische Privatdetektei „Metodo 3“ folgte Spuren ins Darknet zum organisierten Kinder- und Menschenhandel. Es konnte ein spanischer Pädophilen-Ring gesprengt werden, konkrete Spuren zu Madeleine gab es aber nicht. Des Weiteren wurden Zusammenhänge mit anderen Fällen von Kindesmissbrauch um Praia da Luz in den Jahren 2004 bis 2010 untersucht, ebenfalls ohne konkrete weiterführende Hinweise.
Vielversprechendste Spur zurzeit: Christian B.
Die vielversprechendsten Ermittlungen sind zurzeit die der Braunschweiger Staatsanwaltschaft gegen Christian B., der zur Zeit von Maddies Verschwinden an der Algarve lebte. Einem Bericht der britischen „Sun“ zufolge soll B. seiner britischen Freundin am Tag vor Madeleines Verschwinden gesagt haben: „Ich muss morgen in Praia da Luz einen Job erledigen, es ist ein schrecklicher Job, aber einer, den ich machen muss, und er wird mein Leben ändern. Du wirst mich eine Weile nicht sehen.“
Nach dem Abendessen verschwand B. plötzlich vom Radar. Drei Jahre lang habe sie nichts von ihrem damaligen Freund gehört, sagte sie der Polizei. 2010 sei er dann plötzlich in einer Bar in Lagos aufgetaucht, etwa zehn Kilometer von Praia da Luz entfernt.
Im Dezember 2019 hatte der britische „Mirror“ erstmals über eine neue Spur im Fall Maddie berichtet, und dass nach einem Deutschen gesucht werde. Im Juni 2020 bestätigte die Staatsanwaltschaft Braunschweig schließlich, dass Christian B. unter Verdacht stehe. Zu jenem Zeitpunkt saß der 45-Jährige, der mehrfach wegen Sexualstraftaten auch an Kindern vorbestraft ist, bereits wegen eines anderen Verbrechens hinter Gittern. Er war im Dezember 2019 – zum Zeitpunkt des Erscheinens des „Mirror-Artikels“ – wegen der Vergewaltigung einer US-Amerikanerin in Praia da Luz vom Landgericht Braunschweig zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Vor wenigen Tagen wurde er nun auch im Rahmen der Untersuchung der Umstände des Verschwindens von Madeleine McCann im Jahr 2007 von der portugiesischen Justiz offiziell beschuldigt.
Staatsanwalt: "Materielle Beweise" für den Tod von Madeleine McCann
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Christian B. ließ es sich Ex-Ermittler Amaral nicht nehmen, noch einmal die Eltern zu beschuldigen. Dazu erklärte der Braunschweiger Staatsanwalt Hans Christian Wolters: "Zu den Aussagen Herrn Amarals möchten wir uns nach wie vor nicht äußern, weil wir davon ausgehen, dass Herr Amaral keine Kenntnis vom aktuellen Ermittlungsstand hat und seine Aussagen daher für uns völlig irrelevant sind." Er betonte, dass es "nicht den winzigsten Hauch eines Tatverdachtes gegen die Eltern" gebe.
Wolters zufolge hat die Braunschweiger Behörde "materielle Beweise" für den Tod von Madeleine McCann, die auf Christian B. als Täter hinweisen. Wann es zu einer Anklage und einen Prozess gegen B. kommt, ist offen. "Insbesondere durch die zwingend notwendigen, aber sehr zeitaufwendigen Rechtshilfeersuchen nach Portugal lassen sich die Ermittlungen leider nicht schneller führen", so die Erklärung. Nach 15 Jahren voller Hoffen und Bangen kann man Kate und Gerry McCann nur wünschen, dass es bald Gewissheit für sie gibt.