Ihre Mutter gibt sie nicht auf

"Wenn ich tot bin, komme ich zu dir zurück": Tamara (8) kämpft gegen tödlichen Gehirntumor

Die kleine Tamara (8) mit ihrer Mama Nataliia Khudolei.
Die kleine Tamara (8) mit ihrer Mama Nataliia Khudolei. Das Mädchen hat einen inoperablen Gehirntumor und wird gerade im Uniklinikum in Augsburg behandelt.
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„Hallo Jessica!“ Ein kleines Mädchen in einer pinken Jacke winkt in die Kamera, begrüßt mich aufgeregt auf Ukrainisch. Das kleine Mädchen heißt Tamara und dies ist das einzige Mal, dass sie während meines Gespräches mit ihrer Mutter dabei sein wird. Danach bekommt sie von Mama Nataliia Kopfhörer aufgesetzt; die Achtjährige soll nicht mithören, was wir besprechen. Denn Tamara hat Krebs und sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach sterben. Doch ihre Mutter kämpft um jeden Lebenstag ihrer Tochter.

Mit sechs Jahren erkrankt Tamara an Krebs

Zu Beginn denkt Nataliia Khudolei (32) ihre Tochter sei einfach etwas erschöpft von der Schule. Es ist September 2021 in Mariupol, einer Stadt in der Ostukraine. Tamara ist gerade eingeschult worden. Womöglich sind die ersten Tage in der Schule noch etwas stressig für das Kind? Doch als Tamara auch Wochen später nur schwer aus dem Bett kommt und eigentlich nur schläft, ahnt Nataliia: Mit ihrem Kind stimmt etwas nicht. „Ich habe Tamara in die Notaufnahme gebracht und erst mal gedacht, es sei Corona“, erzählt sie mir im Gespräch. Doch der Corona-Test, den die Ärzte machen, ist negativ, ebenso der Test auf Meningitis. Was also fehlt der damals Sechsjährigen?

Die endgültige Diagnose verändert das Leben von Mutter und Tochter auf ewig: Krebs. Und nicht nur irgendein Krebs. Tamara hat einen Gehirntumor, ein sogenanntes diffuses intrinsisches Ponsgliom (DIPG). Diese Krebsart ist extrem selten; laut einer Publikation in der „Schweizer Fachzeitschrift für Onkologie“ aus dem Jahr 2021 erkranken in Europa jährlich nur zwei von einer Million Menschen daran. Das Tragische: In den meisten Fällen sind Kinder betroffen und in den meisten Fällen ist der Tumor inoperabel. Die Lebenserwartung nach der Diagnose: maximal fünf Jahre.

Mit Spenden finanziert Nataliia die erste Therapie ihrer Tochter

Auch der Arzt sagt Nataliia damals deutlich: Operieren geht nicht. Wie viel Zeit Tamara noch bleibe? Ungewiss. Es folgt eine Kopfoperation nach der anderen. Tamara wird unter anderem Flüssigkeit aus dem Kopf gepumpt, um den Druck zu senken. Chemotherapie und Bestrahlung folgen. Sie und Mama Nataliia reisen für drei Monate in die Türkei in ein Spezialklinikum; finanziert von 80.000 US-Dollar Spenden. „Doch auch der Arzt dort sagte mir, dass Tamara nicht gesund werden wird und er keine Ahnung habe, wie lange sie noch leben wird“, sagt Nataliia. „Die Therapien in der Türkei haben ihr sehr geholfen, aber sie nicht heilen können.“ Am Ende bleibt ihnen nur die Rückkehr in die Ukraine. Da es in Mariupol kein Kinderkrankenhaus gibt, fährt Nataliia ihre Tochter einmal in der Woche ins über 400 Kilometer entfernte Charkiw. Tamara geht es in der Zeit einigermaßen gut, die Tabletten, die sie damals nimmt, wirken gut. „Wir haben geglaubt, alles sei gut“, sagt Nataliia.

Doch dann kommt der Krieg.

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Krieg in der Ukraine – und Nataliia und Tamara sitzen in Mariupol fest

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Nur einen Monat vor Kriegsausbruch besuchen Tamara und Nataliia die ukrainische Hauptstadt Kiew. Trotz ihrer Erkrankung habe Tamara die Stadt unbedingt einmal sehen wollen, sagt Nataliia.
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Am 24. Februar, als russische Truppen die Grenze zur Ukraine passieren, sind Nataliia und Tamara in Mariupol. Innerhalb weniger Tage habe im Land Chaos geherrscht, erinnert Nataliia sich. Und als sei das nicht genug, bekommen sie und Tamara zu diesem Zeitpunkt auch noch Corona. Für das Kind, dessen Immunsystem sowieso schon geschwächt ist, eine lebensgefährliche Situation. „Am nächsten Tag war bereits alles geschlossen“, so Nataliia, „die Apotheken, die Krankenhäuser, alles!“

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Bis Mitte März sitzen die beiden in Mariupol fest, die Stadt ist von russischen Truppen umstellt. Dann erst findet sich jemand, der sie zur rumänischen Grenze bringt. In den paar Tagen verliert Nataliia ihre ganze Familie in den Wirren des Krieges. Ihre Mutter und Großmutter ebenso wie ihr Ehemann sterben im Bombenhagel, ihre Schwester, die ebenfalls in der Stadt lebt, gilt als verschollen. Die Einzige, die ihr bleibt, ist Tamara, der es gesundheitlich immer schlechter geht. Fünf Tage brauchen sie bis nach Rumänien, ein Horrortrip für die Frauen. „Tamara ging es zu der Zeit sehr schlecht. Sie war unterkühlt, konnte ihre Finger nicht mehr bewegen und kaum noch sprechen.“ Eigentlich habe ihre Tochter eine Bluttransfusion gebraucht, doch die haben sie natürlich nirgendwo organisieren können. Selbst Wasser ist rar; Nataliia gibt ihrer Tochter Wasser aus Pfützen und geschmolzenem Schnee. „Wir haben die ganze Hölle des Krieges durchlebt.“

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Die Katastrophenhilfe der Diakonie bringt die beiden nach Deutschland

Erst als sie an der Grenze zu Rumänien von der Katastrophenhilfe der Diakonie aufgegriffen und nach Deutschland gebracht werden, kann Nataliia wieder etwas Hoffnung schöpfen. Sie werden sofort ins Uniklinikum Augsburg gebracht, wo sich Tamara trotz aller Widrigkeiten wieder erholt. „Wir haben mit den Ärzten überlegt, wie wir Tamara noch behandeln könnten“, so Nataliia, „doch die Ärzte waren hilflos. Sie sagten, ich solle akzeptieren, dass meine Tochter stirbt.“ Das kommt für die junge Mutter ganz und gar nicht infrage und sie greift nach dem letzten verbliebenen Strohhalm, von dem ihr bereits die Ärzte in der Ukraine erzählt haben und die auch die deutschen Mediziner noch als Alternative sehen: eine Immuntherapie. Bei der Therapie wird dem Patienten – vereinfacht gesagt – körpereigenes Gewebe entnommen und so umprogrammiert, dass die Immunkräfte des Körpers den Tumor angreifen können. Außerdem muss vorher so viel wie möglich vom Tumor weggeschnitten werden.

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In Charkiw habe man Tamara bereits Gewebe entnommen, so Nataliia, doch das sei in der Ukraine zurückgeblieben. Sie müssen hier also wieder von vorne starten. Der Termin für die OP ist am 19. April, bis dahin muss Tamara Tabletten nehmen, die ihre Mutter 855 Euro die Woche kosten, ganz zu schweigen von den Kosten der Immuntherapie später. Alles in allem rechnet Nataliia mit 50.000 Euro Behandlungskosten.

Nataliia kämpft für ihre Tochter: „Sie weiß, dass sie todkrank ist, aber sie ist sehr tapfer“

Tamara und Nataliia im März 2023
März 2023: Tamara und Nataliia sind noch immer in Augsburg und hoffen auf die Immuntherapie, die Tamaras Krebs bekämpfen soll.
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Geld, das sie nicht hat; Geld, das die Versicherung nicht ausgeben will. „Die Chance, dass die Therapie anschlägt und Tamaras Leben verlängert, liegt bei einem Prozent“, sagt Natalia und bestätigt damit auch neuste Forschungen aus den USA. Trotzdem: „Ich brauche Tamara in diesen einen Prozent“, pocht Nataliia. „Wir müssen probieren und probieren und probieren.“ Aktuell versucht sie deshalb auf der Website "GoFundMe" über eine Spendenkampagne an das Geld zu kommen. Doch von den 50.000 Euro fehlen noch immer ganze drei Viertel.

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Und Tamara? Die liest und malt viel und versucht sich, von ihrer Krankheit abzulenken. In die Schule darf sie nicht, das ist wegen ihres geschwächten Immunsystems zu gefährlich. „Sie weiß, dass sie todkrank ist“, sagt Nataliia, „aber sie ist sehr tapfer. Sie ist sehr reif für ihr Alter. Sie sagt mir immer: Mama, auch wenn ich tot bin, komme ich immer zu dir zurück.“ Nataliia versucht wie ihre Tochter, nicht den Mut zu verlieren und Tamara gegenüber viel zu lächeln und sich nichts von ihren Sorgen anmerken zu lassen. Etwas, dass ihr nicht immer leicht fällt, schließlich ist Nataliia ganz allein. Es sind keine Angehörigen oder Freunde mehr da. Nebst dem Krankenhauspersonal sei die einzige Person, mit der sie Kontakt habe, die Sozialarbeiterin, die einmal die Woche vorbei kommt und ihr bei dem Papierkram helfe, so Nataliia. Alles, was ihr bleibe, sei Hoffnung. „Ich wünsche mir, dass der Krieg in der Ukraine irgendwann vorbei ist und wir nach Hause können“, sagt sie. „Das und dass Tamara wieder ganz gesund wird.“