Wie sie die Geburt ihres Extrem-Frühchens erlebteHenrik kam mit 740 Gramm zur Welt - Meike (31): „Ich war in einem Schockzustand“

Was macht es mit dir, wenn dein Baby viel zu früh zur Welt kommt?
Meike musste diese Erfahrung selbst durchleben – eine Erfahrung, vor der viele werdende Eltern Angst haben: Mit nur 740 Gramm wurde ihr Sohn Henrik* in der 23. Schwangerschaftswoche per Not-OP entbunden. Mittlerweile geht es dem Jungen gut, Henrik ist ein gesunder, kleiner Junge. Bei RTL will Meike anderen Betroffenen Mut machen, sagt: „Es ist Wahnsinn, was die Medizin mittlerweile schafft!“
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Ziehen im Unterleib: „Der Arzt sagte nur 'Scheiße'“
Das erste Wochenende im Juni 2023 in Frankfurt am Main ist ein perfektes Sommerwochenende, 24 Grad, viel Sonnenschein. Doch Meike (31), Mitarbeiterin im Umweltamt, macht sich Sorgen: Sie ist in der 24. Woche schwanger und spürt Druck, Schmerzen und ein Ziehen im Unterleib. Nicht ungewöhnlich, aber die Beschwerden gehen nicht weg, werden sogar stärker. Vielleicht Übungswehen? Sie beschließt, am Montag zu ihrem Frauenarzt zu gehen, um das abklären zu lassen.
Am 5. Juni wird sie untersucht. „Ich habe mich dann auf den Gynäkologenstuhl gesetzt“, erzählt sie uns. Der Arzt habe sie untersucht und nur ein Wort gesagt: ‘Scheiße!’ Meike weiß nicht, was los ist. Der Mediziner wendet sich ab und geht Richtung Praxisempfang, sagt noch einmal: „Mist, Mist.“ Den Sprechstundenhilfen gibt er Bescheid, dass umgehend ein Krankenwagen gerufen werden soll.
Dreißig Minuten lang liegt Meike auf einer Liege. Der Gebärmutterhals sei verkürzt, er könne jetzt nicht weiter untersuchen, sagt der Frauenarzt. Zu groß sei die Gefahr, Wehen auszulösen. Meike beginnt zu weinen, versucht ihren Mann anzurufen, doch der geht nicht ans Telefon. Sie erreicht ihre Mutter, erklärt ihr, was passiert ist. Sie will ins Frankfurter Bürgerhospital, dort möchte sie ohnehin entbinden. Nach einer gefühlten Ewigkeit von zwanzig Minuten kommt der Krankenwagen.
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Meike hat einen Fruchtblasenprolaps
Im Krankenhaus muss sie wieder auf eine Liege, ohne zu wissen, wie es weitergeht. Eine Freundin, die selbst im Krankenhaus arbeitet, steht ihr zur Seite, versucht, sie zu beruhigen, hält ihre Hand. Mittlerweile ist auch ihr Mann Philipp (31), der in der Versicherungsbranche arbeitet, da, bei Meike fließen die Tränen.
„Es wurde festgestellt, dass ich einen Fruchtblasenprolaps habe, dass ein Teil meiner Fruchtblase bereits im Geburtskanal ist“, erzählt sie uns. Die Gynäkologen diskutieren die Option, die Fruchtblase wieder zurückzuschieben. Doch auch ein Riss wird festgestellt, Meike verliert Fruchtwasser. Eine OP ist damit ausgeschlossen – zu groß das Risiko, dass die Blase platzt.
Soll Henrik leben - oder soll er sterben?
Die werdende Mutter bekommt Wehenhemmer und Antibiotika. Ihre Eltern sind bei ihr, leisten ihr Beistand. „Ich war in einem Schockzustand, ich konnte das immer noch nicht realisieren und lag einfach da. Ich durfte nicht aufstehen, außer wenn ich auf Toilette musste, sondern musste einfach nur liegen, liegen, liegen, liegen und hoffen, dass das Kind drinnen bleibt“, erinnert sie sich.
Meike ist in der 23. Schwangerschaftswoche plus vier Tage. Deutschland, Japan und Österreich gehören zu den wenigen Ländern, in denen Frühgeborene behandelt werden, wenn sie in der 22. oder 23. zur Welt kommen. In anderen Ländern ist der entscheidende Zeitpunkt hierfür die 24. oder 25. Woche.
Ärzte stellen Eltern dann die Frage: Wenn es jetzt akut wird, soll dann alles getan werden, um das Leben des Kindes zu retten – oder nicht? Meike wird bei dieser Frage schlecht. „Ich konnte es gar nicht fassen, dass mir diese Frage überhaupt gestellt wurde“, sagt sie. „Für mich war von vornherein klar: Alles machen, was geht!“
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Die Wehen setzen ein
Doch erst einmal gilt: Je länger das Baby im Bauch bleibt, umso besser. „’Jeder Tag zählt’, hat man mir gesagt“, erinnert sich Meike. Bis zu 16 Wochen könnte das dauern. Am Dienstag, den 6. Juni, scheint noch alles gut, am darauffolgenden Tag ist Meikes Bett voller Blut. Sie bekommt Panik, verlangt einen Ultschrallcheck: Lebt ihr Baby noch? Eine Untersuchung ergibt: Alles in Ordnung, auch die Fruchtwassermenge ist ausreichend. Meike versucht sich abzulenken, spricht mit ihrer Zimmergenossin, guckt Filme auf dem Tablet.
Zwei Tage später setzen um zwei Uhr nachts starke Wehen ein. Die Wehenhemmer-Dosis wird erhöht, Meike bekommt Herzrasen. Sie tastet ihren Bauch, will spüren, ob es Henrik gut geht. Sie singt ein Kinderlied für ihn, zittert am ganzen Körper so stark, dass sie fixiert werden muss für die Untersuchung. Dann wird entschieden: Meike muss in den Kreißsaal, zunächst nur zur Beobachtung.
Der Chirurg rief ins Telefon: „Es geht genau JETZT los!“
Die Untersuchung durch einen Oberarzt ergibt: Henriks Füße sind bereits im Geburtskanal – sofort Not-OP! Aber Meike möchte das in diesem Moment nicht, ihr Kleiner soll doch so lange wie möglich im Bauch bleiben. Hektik breitet sich aus. Meike ruft ihren Mann an, sagt ihm, dass es losgeht und er sofort kommen soll. Ein Chirurg reißt ihr das Telefon aus der Hand und sagt in den Hörer: „Es geht genau JETZT los!“
Meike wird auf einen eiskalten OP-Tisch verfrachtet, jetzt ist auch der Anästhesist da. Jod wird auf ihren Bauch gepinselt. Eine Hebamme ist an ihrer Seite und versucht, Meike zu beruhigen. Fragt, wie ihr Sohn denn heißen soll. Meike sagt ihr immer wieder: „Passen Sie auf ihn auf, das ist mir wichtig, passen Sie nur auf ihn auf!“ Auch der Narkosearzt versucht, sie zu beruhigen. Sie zittert immer noch, bekommt Sauerstoff. „Dann kam die Maske auf mein Gesicht, und dann war ich weg.“
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Überlebenschance von 50 Prozent! Henrik kommt per Not-OP auf die Welt
Am 9. Juni um 4:28 Uhr kommt Henrik per Not-OP auf die Welt. Seine Überlebenschancen liegen bei 50 Prozent. Vater Philip kann seinen Sohn eine halbe Stunde später sehen, begleitet ihn auf die Neonatologie-Intensivstation. Wann sie genau wieder aufgewacht ist, weiß Meike nicht genau. „Ich glaube, es war am Vormittag“, erzählt sie uns. Sie will sofort zu ihrem Baby, aber die Schwestern verneinen: zu früh! Meike versucht aus dem Bett zu kommen, der Kreislauf macht nicht mit.
Gegen Mittag kommt eine Schwester, bittet Meike darum, Milch abzupumpen. Zu diesem Zeitpunkt ergibt das für sie gar keinen Sinn. ,Ich weiß überhaupt nicht, ob er überhaupt noch lebt’, habe sie damals gedacht. „Ich konnte mit dem Gedanken erst einmal überhaupt nichts anfangen, habe es aber einfach gemacht. Gott sei Dank, im Nachhinein.“ Tatsächlich zählt jeder Milliliter.
Um 16 Uhr darf Meike zu ihrem Sohn. Ihr Mann fährt sie im Rollstuhl zu Henrik. Sie sieht ihr Baby im Brutkasten liegen. Alles andere als ein einfacher Moment, erinnert sie sich. „Es war für mich traumatisch. Er hat mir einfach nur unfassbar leidgetan. Seine Haut war so dünn, dass man seine Organe sehen konnte. Er war ganz rot, total zerbrechlich.“

Am 23. Juni öffnet Henrik das erste Mal seine Augen
Jetzt geht der Kampf ums Überleben erst richtig los. Ein Kampf, den Henrik mit Hilfe seiner Eltern, den Ärzten und Pflegern des Bürgerhospitals am Ende gewinnen wird – ganz langsam, Stück für Stück. Vor allem die ersten drei Tage sind kritisch, wissen die Ärzte. Alle zwei Stunden bekommt Henrik Meikes Milch über eine Magensonde. Aber das Kindspech kommt, der erste Stuhlgang eines neugeborenen Babys. Ein Zeichen dafür, dass die Verdauung in Gang kommt.
Am 23. Juni öffnet ihr Baby zum ersten Mal die Augen. Doch die Sorgen hören nicht auf: Der Kleine wiegt nur noch 655 Gramm. Die Ärzte geben kalorienreiche Nährstoffe zur Muttermilch, damit er an Gewicht zulegt. Am 30. Juni knackt Henrik endlich die 800-Gramm-Marke, am 12. Juli bringt er schließlich ein Kilo auf die Waage. Über den Berg ist er noch nicht, aber die Fortschritte sind vielversprechend. Henrik ist ein Kämpfer.
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Das erste Mal stillen: „Ein sehr, sehr, sehr berührender Moment“
Am 22. Juli wechselt Henrik vom Brutkasten ins Wärmebett, der Beatmungsschlauch kann entfernt werden, ab jetzt bekommt er eine Atemmaske. Nach wie vor wird der Kleine rund um die Uhr bewacht, denn manchmal setzt die Atmung noch aus, dann muss sie mit dem Beatmungsbeutel wieder in Gang gesetzt werden. Am 25. Juli wird die High-Flow-Therapie begonnen, die die Atemmaske ersetzt. Schon zwei Tage später darf Henrik die Intensivstation verlassen und kommt auf die Nachsorgestation. Seine Atmung ist stabil, er kann seine Temperatur alleine halten.
Am 5. August wiegt Henrik schließlich 1,5 Kilogramm – und er ist gewachsen! Meike darf ausgiebig mit ihm kuscheln und ihn zum ersten Mal anlegen: „Es war für mich ein sehr, sehr, sehr berührender Moment, ihn das erste Mal stillen zu dürfen“, erinnert sich Meike.
Im August folgen die nächsten großen Schritte: Die High-Flow-Brille für die Sauerstoffunterstützung wird für vier Stunden komplett weggelassen, Henrik trinkt das erste Mal aus der Flasche. Bald wiegt er über zwei Kilogramm und kann damit endlich eine normale Baby-Windel-Größe tragen. Kleine Dinge, die für seine Eltern die Welt bedeuten! Die Magensonde entfernt er sich selbst – jetzt bestimmt Henrik selbst, wie viel er essen und trinken muss.
Am 11. September kann das normale Familienleben beginnen - und doch fehlt etwas
Am 11. September darf Henrik nach Hause – endlich. Wenn Meike an diese Zeit zurückdenkt, spürt sie dennoch, dass ihr etwas fehlte: „Ich hatte keinen Geburtsvorbereitungskurs. Ich hatte kein Babybauch-Shooting. Ich hätte keine Babyparty. Auch wenn es ihm heute gut geht, es fehlt immer noch.“
Die Ärzte sagen über Henrik, er sei ein „6er im Lotto“. „Man sieht seine Entwicklungsschritte wie bei einem ganz normalen Baby“, sagt Meike. Ein paar besondere Termine stehen allerdings an: Er bekommt Physiotherapie, muss regelmäßig ins sozial-pädiatrische Zentrum zur Beobachtung. „Wir waren beim Augenarzt, beim Ohrenarzt, alle sind zufrieden“, erzählt Meike. „Auch eine Neurologin hat ihn angeschaut, und die hat gleich gesagt: ‘Was soll ich eigentlich für Sie tun? Kommen Sie in zwei Jahren wieder’.“
Wenn sie einen Wunsch frei hätte? „Ich würde so gerne Wochen oder Monate zurückgehen und meinem Ich sagen: ‘Es wird alles gut’. Er schafft es, er ist gesund. Das habe ich mir oft gedacht“, sagt Meike mit dem Wissen, das sie heute hat. Für Henriks Mutter ist es schier unglaublich, wie viel Kraft in einer Handvoll Mensch stecken kann – und was dank moderner Medizin heute alles möglich ist.
*Name auf Wunsch der Familie von der Redaktion geändert
































