Zum 1.000. Spiel in Dortmunds Fußballoper: Liebesbrief an ein Stadion

Fußball: Bundesliga, Borussia Dortmund - Bayern München, 28. Spieltag im Signal Iduna Park. Fußballer beider Mannschaften bestreiten die Partie vor leeren Zuschauerrängen. (Aufnahme aus einem Gyrokopter)
Der Signal Iduna Park in Dortmund aus der Luft (Aufnahme aus einem Gyrokopter)
Marcel Kusch, picture alliance/dpa | Marcel Kusch, picture alliance/dpa |

Das Europapokalspiel Borussia Dortmund gegen Glasgow Rangers am 17. Februar 2022 ist eines für die Geschichtsbücher. Es ist das 1.000. Punkt- oder Pokalspiel im Westfalenstadion, seit es 1974 seiner Bestimmung übergeben wurde. Doch was ist eigentlich seine Bestimmung? Das Stadion an der Strobelallee ist ein Ort der Begegnung, der Freude, der Trauer, der ganz großen Emotionen. Es ist Gefühlskino und Museum für Gemälde menschlicher Leidenschaft. Anlass genug, einen Fußballtempel zu würdigen, der seinesgleichen sucht.

Früher Westfalenstadion, heute Signal-Iduna-Park - Deutschlands erstes reines Fußballstadion

Das Bild zeigt das Westfalenstadion in Dortmund am 8. April 1974 bei einem Spiel von Borussia Dortmund in der Regionalliga-West Saison 1973/1974. [dpabilderarchiv]
Das Bild zeigt das Westfalenstadion in Dortmund am 8. April 1974 [dpabilderarchiv]
Hanns J. Hemann, picture alliance / dpa | Hanns J. Hemann, picture alliance / dpa

Als am 2. April 1974 zum ersten Mal ein Fußballspiel auf Deinem Rasen stattfindet, bin ich noch keine zehn Jahre alt. Wenige Monate später sehe ich Dich zum ersten Mal in meinem Leben, in Schwarzweiß und im Fernsehen. Dass sich aus diesem ersten scheuen Blickkontakt eine tiefe Beziehung entwickelt, ahne ich in diesem Moment nicht im Ansatz. Vor der „Geisterkulisse“ von 27.000 Zuschauern spielen Zaire und Schottland um WM-Punkte. Total unverständlich für mich, dass dieses Spiel so wenig Leute sehen wollen: im einzigen reinen Fußballstadion Deutschlands, zwischen zwei - meiner kindlichen Meinung nach - phantastischen Teams. Endstand übriges 2:0 für die Schotten.

Nur vier Spiele finden im kleinsten der WM-Stadien statt, und Du bist auch nur eine Notlösung. Dass Du überhaupt dabei bist, liegt an den Unzulänglichkeiten meiner heutigen Heimatstadt Köln, die fest als Austragungsort eingeplant ist, es aber nicht auf die Kette kriegt, rechtzeitig ihre Spielstätte zu eröffnen. Daran, dass Fertigstellungsdaten am Rhein allenfalls empfehlenden Charakter haben, hat sich bis heute - nicht nur Dom, Oper und U-Bahn lassen grüßen - wenig geändert.

Dir und Dortmund kann das herzlich egal sein. Die Stadt bekommt das erste Stadion in Deutschland, das ausschließlich dem Fußball-Gott geweiht ist und die Borussia eine Heimat, um die sie viele beneiden. Anfangs musst Du Dir Zweitligafußball in deinen Mauern gefallen lassen, zum ersten Ligaspiel am 7. April 1974 gastiert Bayer Uerdingen, Tore Fehlanzeige.

Sehnsüchtige Blicke auf die Flutlichtmasten des Dortmunder Westfalenstadions

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Dortmunder Westfalenstadion 1974
Werner Otto, United Archives / Werner OTTO, United Archives

Auf Dein erstes "richtiges" Bundesligaspiel musst du geraume Zeit warten, als es passiert, hält sich die Zahl der Dortmunder Besucher in übersichtlichen Grenzen. Denn die erste Erstliga-Begegnung lautet VfL Bochum gegen Du-wisst-schon Gelsenkirchen, ausgerechnet an Deinem zweiten Geburtstag.

Wie es dazu kommt, ist eine wunderbare Anekdote und nachzulesen im großartigen Buch „Spieltage: Die andere Geschichte der Bundesliga“ von Ronald Reng. Bochums damaliger Trainer Heinz Höher verwandelt vor dem eigentlichen Spieltermin den Platz im Ruhrstadion in einer nächtlichen Aktion mithilfe von Wassereimern, dem Platzwart und gefrorenem Boden in eine unbespielbare Eisfläche, damit die Partie verlegt werden muss und Bochum nach Dortmund ausweichen kann, was dem Verein eine deutlich höhere Einnahme beschert. Überragende Aktion!

Verzeih' bitte diesen kleinen Exkurs und die Erwähnung eines anderen Stadions, ab sofort geht es ausschließlich um Dich. Ich kann dich in jenen Jahren nur aus der Ferne anhimmeln, wir wohnen 120 Kilometer entfernt. Ab und zu sehe ich Dich im Fernsehen, eher selten darf ich Dir wenigstens ein bisschen nahe sein - als kleiner Knirps auf dem Rücksitz von Papas Auto. Wenn wir vorbeifahren, drücke ich mir die Nase an der Scheibe platt, sobald ich Deine Flutlichtmasten entdecke – und schaue Dir sehnsüchtig hinterher, bis sie längst aus dem Blickfeld sind.

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Unser "erstes Mal"!

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Links Roger van Gool (1.FC Köln), der erste Spieler, für den ein deutscher Verein eine Millionen-Ablöse bezahlte. Rechts Dortmunds Europapokal-Legende Siggi Held (Archivfoto 30.09.1978)
Werner Otto, United Archives / Werner OTTO, picture alliance

Wie die anderen Borussen-Fans beginnen, in Dir heimisch zu werden und Besitz von Dir zu ergreifen - das alles kenne ich nur vom Hörensagen. Nach dem Wiederaufstieg des BVB in die höchste Spielklasse dauert es noch über ein Jahr, ehe ich Dich persönlich kennenlernen darf.

Für unser erstes Mal muss ich meinen Eltern eine faustdicke Lüge auftischen, denn sie hätten einem Stadionbesuch des 13-jährigen Knaben im fernen Dortmund niemals zugestimmt. Trotz der 0:2-Niederlage gegen Eintracht Frankfurt an jenem 27. August 1977 ist es direkt um mich geschehen. Ich finde Dich auf Anhieb klasse und weiß genau: Wir wollen, müssen und werden uns wiedersehen!

Leider dauert es über ein Jahr bis zu unserem nächsten Treffen. Diesmal darf ich Dich dort spüren, wo Dein Herz schlägt, auf der Südtribüne. Es geht gegen den damals großen 1. FC Köln. Was stehen an jenem 30. September 1978 für Granaten auf dem Platz: Schumacher, Konopka, Neumann, Cullmann, Dieter Müller und der belgische Millionenstürmer van Gool. Unsere mag ich viel lieber, aber Theis, Segler und Vöge klingen verdammt bieder im Vergleich zu den prominenten Geißböcken. Unser Trainer heißt Rühl, deren Hennes Weisweiler…

Große Spiele und unterirdisches Gekicke in Dortmund

Fans des Fußball-Bundesligavereins Borussia Dortmund, aufgenommen am 10.04.1984 in Dortmund. +++(c) dpa - Report+++ [dpabilderarchiv]
Kutte, selbstgemachter Schal - das waren die Achtziger. Herrlich!
picture-alliance/ dpa, Franz-Peter Tschauner, dpa

Egal, ich bin einfach nur begeistert, angesteckt von dem Wahnsinn, der um mich herum passiert: Was Du für Leute kennst, was Du für Freunde hast - all diese coolen Kerle in ihren sensationellen Kutten oder diese schrankenlosen alten Säcke, die ohne Unterlass Unaussprechliches von sich geben, das in den Mund zu nehmen ich mich niemals getraut hätte - einfach nur geil!

An regelmäßige Treffen ist in diesen Jahren aber leider nicht zu denken. Erst in den 80ern ändert sich das grundlegend, wir sehen uns nun häufiger und meine Zuneigung zu Dir wächst von Mal zu Mal. Wir erleben große Spiele zusammen, wir müssen unterirdisches Gekicke über uns ergehen lassen. Wir sehen unzählige Spieler, Trainer und Offizielle kommen - und wieder gehen.

Tränen in den Augen und Kummer im Herzen

firo : 17.6.1995 Fußball, Saison 1994/1995 1.Bundesliga: BVB Borussia Dortmund - HSV Hamburg 2:0 Ibrahim Tanko Deutscher Meister 1995 Siegerehrung mit Meisterschale
17. Juni 1995: Der BVB wird nach 32 Jahren wieder deutscher Meister
firo Sportphoto, picture alliance / augenklick/firo Sportphoto | firo Sportphoto, picture alliance

Wie in jeder Beziehung gibt es natürlich Wermutstropfen, bedenke all die Momente, die ich so gern mit dir teilen möchte, aber nicht kann, weil ich keine Eintrittskarte habe. Borussias erste Deutsche Meisterschaft nach 32 Jahren sehe ich im Juni 1995 auf dem Friedensplatz auf Leinwand. Mit Freudentränen in den Augen und einen Stich Kummer im Herzen, weil ich nicht im Epizentrum des Wahnsinns dabei sein kann.

Es dauert so verdammt lange, bis ich diesen unglaublichen Moment erleben darf, mit Dir deutscher Meister zu werden. Als sei es gestern erst gewesen, erinnere ich mich an den Moment, in dem Enrique Ewerthon im Mai 2001 gegen Werder Bremen den Ball über die Linie drückt und an die anschließende Explosion der Gefühle. Gänsehaut, dicker als ein Norwegerpulli.

Durch einen glücklichen Zufall kann ich seitdem so gut wie immer bei Dir sein bzw. selbst darüber bestimmen. Denn dieses Spiel und - um es mit Hollywood zu sagen - "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft" bringen mich in den Besitz der ersten Sitzplatz-Dauerkarte meines Borussen-Lebens (an dieser Stelle herzliche Grüße an Karl-Heinz und Rita!). Der Sitzer im Osten ist meine zweite Heimat geworden und passt inzwischen auch besser zu meinem Alter und zu meinem maladen Rücken, aber ich werde auch die unzähligen anderen Erlebnisse auf der Süd, West und Nord nicht vergessen.

Menschen und Momente für die Ewigkeit mit dem BVB

Vor seinem Abschiedsspiel am 7.8.1999 im heimischen Westfalenstadion umarmt der Dortmunder Michael Zorc (l) seinen langjährigen Mannschaftskameraden, den Schweizer Stürmer Stephane Chapuisat. Zorc beendet nach 17 Jahren seine aktive Karriere und arbeitet künftig als Sportdirektor bei Borussia, Chapuisat wechselt zurück in sein Heimatland. [dpabilderarchiv]
Vor seinem Abschiedsspiel am 7.8.1999 im heimischen Westfalenstadion umarmt der Dortmunder Michael Zorc (l) seinen langjährigen Mannschaftskameraden, den Schweizer Stürmer Stephane Chapuisat
Franz-Peter Tschauner, picture-alliance / dpa | Franz-Peter Tschauner, picture-alliance / dpa

In Deinen Mauern lässt sich nahezu die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle erleben, von tiefer Trauer bis hin zu höchstem Glück. Mit Dir kann man sich würdevoll verabschieden von Spielern, die man bejubelt, gemocht oder sogar verehrt hat. Denke nur an die Abschiedsspiele von Susi Zorc, Jürgen-Kohler-Fußballgott und dem großen Julio Cesar. Oder an die Blumen für Jan Koller und, mein Herz wird schwer, Leonardo de Deus Santos, kurz Dede, der 13 Jahre lang unsere Nummer 17 war.

Man kann sich bei Dir gehenlassen, bedenkenlos wildfremden Leuten um den Hals fallen, ohne sich komisch zu fühlen. Man kann sogar ohne den Hauch eines schlechten Gewissens Unflat von sich geben, als hätte man nie von politischer Korrektheit gehört. Längst gehöre ich zu jenen, die Dinge hinausposaunen, die mir früher die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten. Aber Du schaffst es, dass ich es dennoch tue und mir ganz normal dabei vorkomme.

Warum es keinen Lieblingsmoment gibt

DEDE (Borussia Dortmund) nimmt Abschied, ihm kommen die Traenen. Fussball 1.Bundesliga 34. Spieltag: Borussia Dortmund : Eintracht Frankfurt, 14.05.2011 -- Football/Soccer German Bundesliga, 1st Division: BVB Borussia Dortmund vs. Eintracht Frankfurt , Germany, May 14, 2011.
Dede nimmt Abschied, nicht nur ihm kommen die Tränen. (14.05.2011)
Helge Prang/, picture alliance / GES-Sportfoto | Helge Prang/, picture alliance

Du stiftest Bekanntschaft zu großartigen Zeitgenossen, lustigen Vögeln, bewundernswerten Menschen und herrlich schrägen Typen. Verrückt, was einige tun, um regelmäßig bei dir sein. Der alte Herr, der seit 1953 zu JEDEM Heimspiel unseres Ballspielvereins mit dem Fahrrad aus Witten kommt. Oder Joep, der stets gutgelaunte Holländer, der jahrelang seine kleine Tochter auf dem Schoß hat. Großartig seine Fürsorge gegenüber dem Mädchen bei Pfeifkonzerten: Die Ohren des Kindes links vom Bizeps des linken Arms geschützt, rechts von Papas linker Hand. Seine rechte Hand braucht er nämlich, um im gehobenen zweistelligen Dezibelbereich mitzupfeifen. Herrlich!

Oft habe ich mich gefragt, ob es einen Lieblingsmoment gibt, den ich in unserer Beziehung über alle anderen stellen würde. Die Antwort ist nein, denn es sind so verdammt viele, dass ich ein Buch darüber schreiben könnte.

"Das kannst du jetzt nicht machen"

Jubel der Dortmunder Spieler nach dem Schlusspfiff, Jubeltraube auf dem Rasen, Uefa Cup Pokal Achtelfinale Borussia Dortmund - Deportiva La Coruna 3:1 n.V. am 06.12.1994.
Jubel der Dortmunder Spieler nach dem Schlusspfiff des Uefa-Cup-Achtelfinales Borussia Dortmund - Deportiva La Coruna am 06.12.1994.
SVEN SIMON, SVEN SIMON, picture-alliance

Einer davon lässt mich heute noch erbleichen, denn um ein Haar hätte ich den Ausgang eines Jahrhundertspiels verpasst. Wie so viele Besucher verlasse ich Dich und die Südtribüne an jenem Nikolaustag 1994, obwohl das Spiel noch läuft. Das Uefa-Pokal-Achtelfinale zwischen Borussia Dortmund und Deportivo La Coruna dümpelt in der Verlängerung vor sich hin, als ich mit gesenktem Haupt und voller Enttäuschung an Deiner Seite entlang schleiche.

Ganz leise höre ich eine Stimme - es ist Deine, oder? - sagen, "das kannst Du jetzt nicht machen!" Einer Eingebung folgend, nehme ich die nächste Treppe auf der Westtribüne, gehe hoch und setze mich auf einen freien Platz. Es gibt ja genügend, weil so viele ehrlose Lumpen, wie ich fast einer geworden wäre, das Weite gesucht haben. Deiner Stimme sei Dank erlebe ich hingegen, wie uns Kalle Riedle drei Minuten vor Abpfiff in Führung bringt und Lars Ricken 60 Sekunden vor Schluss eine Runde weiter schießt. Der anschließende Jubelorkan lässt Dich in Deinen Grundfesten erbeben - ich mache mir in diesem Moment wirklich Sorgen, Du könntest zusammenbrechen.

Fast zwei Jahrzehnte wird es dauern, bis uns der unvergessene "Ich Fe-lippe- aus"-Santana gegen Malaga ein Deja-vu und den Einzug ins Champions-League-Halbfinale 2013 beschert.

Emotionale Achterbahnfahrten und ein wenig schlechtes Gewissen

Blick von aussen auf den Signal Iduna Park, Heimstaette von Fussball Bundesligist Borussia Dortmund / Borussia Dortmund - RB Leipzig 3:2 / 8. Mai 2021: Dortmund, Signal Iduna Park / Fussball 1. Bundesliga, 32. Spieltag. Foto: motivio
Blick von außen auf den Signal Iduna Park, den eingefleischte Schwarzgelbe immer Westfalenstadion nennen werden.
Z6263 motivio, picture alliance / ZB | motivio, picture alliance

Weil auch die schlechten Momente zu unserer Beziehung gehören, soll einer stellvertretend stehen, auch wenn es beileibe nicht der schwärzeste war. Am 19. März 2000 spielen wir gegen Arminia Bielefeld. Gestandene Leute wie Kohler Möller, Ricken oder Feiersinger gegen Laufkundschaft wie Maul, Stratos, Gansauge oder Waterink. Denke ich zumindest. Mit einem blamablen Auftritt der Kategorie siebte Sohle bringen die feinen Herrschaften das Kunststück zuwege, trotz Führung sang- und klanglos mit 1:3 baden zu gehen.

Miesester Laune und mit einem Gesicht wie Reklame für Nierenleiden verlasse ich meinem Tagesplatz (seitdem meide ich die Westtribüne wie ein Abwehrspieler aus Uruguay einen Fairplay-Kurs) und drücke einem verschreckten kleinen Jungen meinen Schal in die Hand. "Hier, ich will die Scheiße nicht mehr haben", blaffe ich den armen Kerl an. Warum mir ausgerechnet das im Gedächtnis geblieben ist? Keine Ahnung - vielleicht aus schlechtem Gewissen gegenüber dem verschreckt guckenden Kind.

Unvergessen bleibt mir der 2. November 2003, eine emotionale Achterbahnfahrt im Weltrekordtempo. Grottenschlecht kicken wir gegen den Hamburger SV, der nach einer Stunde völlig verdient mit 2:0 führt. Unverhofft, mehr oder weniger aus dem Nichts schießt Jan Koller den Anschlusstreffer. Während wir den noch bejubeln, pfeift der Schiri Elfer, wieder Koller, 2:2! Als kurz darauf Ewerthon das Spiel endgültig dreht, wähne ich mich einem Herzkapser nahe, so sehr rast die Pumpe. Drei Tore in 300 Sekunden, aus einem Rückstand wird innerhalb weniger Minuten unverhofft ein Sieg, der helle Wahnsinn.

RTL-Reporter kündigt BVB-Sieg an

Oder erinnerst Du Dich noch an den 11. April 2012? 30. Spieltag, wir als Tabellenführer gegen Verfolger München. Ein enges Spiel, eine Viertelstunde vor Schluss bringt uns Lewandowski mit einem geilen Tor in Führung. Vier Minuten vor dem Ende kriegen die Bayern "natürlich" einen Elfmeter. Scheiße! Die Spannung ist mit Händen zu greifen, alle stehen, das gesamte Stadion, niemand hält es auf seinem Platz.

Hätte Robben vorbeigeschossen, wäre der Schrei anders gewesen

Torwart Roman WEIDENFELLER (DO) haelt den Elfmeter von Arjen ROBBEN (M/ hinten), Aktion, Foulelfmeter, Fussball 1. Bundesliga, Spieltag 30, Borussia Dortmund (DO) - FC Bayern Muenchen (M) 1:0, am 11.04.2012 in Dortmund / Deutschland
11.04:2012: Weidefeller hält den Robben-Elfer fest, ein Meilenstein auf dem Weg zur Meisterschaft
Anke Fleig, picture alliance / Sven Simon | Anke Fleig/SVEN SIMON, picture alliance

Ich kann nicht hinsehen, drehe mich um, starre auf Bäuche. Millisekundenlang Totenstille, man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Dann hüpfen die Bäuche gen Himmel und der Urschrei lässt mich wissen, dass Weidenfeller den Ball gehalten hat. Hätte Robben vorbeigeschossen, wäre der Schrei anders gewesen - etwas leiser und mit etwas weniger Genugtuung.

Leere Tribünen in Dortmund – ein Anblick, den ich kaum ertrage

Welle , Schlussjubel , la ola , laola , vor der leeren Südtribüne , Geisterspiel , leer , leere Sitze , Ränge , Tribüne , Stadion , Block , Witz , Humor , kurios Sport: Fussball: 1. Bundesliga: Saison 19/20: 26. Spieltag: Borussia Dortmund - FC Schalke 04, 16.05.2020 Foto: Ralf Ibing/firosportphoto/POOL via RHR-FOTO Nur für journalistische Zwecke! Only for editorial use! Gemäß den Vorgaben der DFL Deutsche Fußball Liga ist es untersagt, in dem Stadion und/oder vom Spiel angefertigte Fotoaufnahmen in Form von Sequenzbildern und/oder videoähnlichen Fotostrecken zu verwerten bzw. verwerten zu lassen. DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video.
La-Ola nach dem Corona-Derbysieg gegen Schalke im Mai 2005 ohne Fans. Die Spieler machen den Daheimgebliebenen eine Freude.
Ralf Ibing, picture alliance/dpa/firo Sportphoto | Ralf Ibing, picture alliance/dpa/firo Sportphoto

Denkwürdig ist es gegen Wolfsburg im Februar 2017, als Deine Herzkammer leer bleibt. Weil ein paar von uns ein paar Mal zu oft was Dummes gemacht haben, ist die Südtribüne als erzieherische Maßnahme gesperrt. Fühlt sich sehr seltsam an, aber man wächst mit seinen Aufgaben und so brüllen wir für die Abwesenden mit.

Surreal sind die beiden vergangenen Jahre. Niemand im Stadion außer den Spielern und Offiziellen. Schlimm. Oft schalte ich den Fernseher aus, weil ich Deinen Anblick ohne uns nicht ertragen kann. Als wir das erste Mal wieder zu Dir dürfen, ziere ich mich. Alle oder keiner, denke ich, "nur" eine paar tausend Zuschauer zuzulassen, empfinde ich als ungerecht. Beim nächsten Spiel gehe ich doch, das erste Mal nach anderthalb Jahren Zwangspause. Als ich endlich wieder über die Brücke am Rheinlanddamm gehe und Deine gelben Pylonen sehe, fühlt es sich an, wie nach Hause zu kommen.

Für die Londoner „Times“ das "schönste Stadion der Welt"

Uli Vonstein
Autor Uli Vonstein auf der Südtribüne und seine "drei Sekunden Ruhm" bei einer Sponsorenaktion am Stadion nach der Sensations-Meisterschaft 2011 (kleines Foto)
Strukamp / unbekannt, Vonstein, RTL

Die Jahre ziehen nicht spurlos an Dir vorüber. Du gehst mit dem Zeitgeist und nimmst sogar den Namen eines anderen an. Wie viele Deiner Besucher wirst du im Lauf der Zeit etwas fülliger, immerhin finden nach diversen "Schönheits-OPs" 80.000 Menschen in Dir Platz. Deiner Anziehungskraft tut das keinen Abbruch. Dein Äußeres hat sich verändert, nicht zu Deinem Nachteil, wobei der Romantiker in mir manchmal noch vor seinem inneren Auge Deine Flutlichtmasten sieht. So wie man an ein besonders schönes, leider verloren gegangenes Schmuckstück denkt.

Wie mir mag es vielen Borussen gehen, die an diesem 17. Februar an die vielen der unfassbaren 1.000 Spiele auf Deinem Rasen denken. Auch sie kennen die großen Gefühle, die unvermeidlichen Niederlagen, die süßen Siege. Auch sie verdanken Dir Freundschaften und Beziehungen, die vielleicht bis ans Lebensende halten. Ob sie Dir auch alle schreiben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Du für mich nicht nur wie für die Londoner „Times“ das "schönste Stadion der Welt" bist. Du bist weit mehr: unser Sehnsuchtsort. Und Du wirst es immer bleiben.