25 Jahre nach dem Zugunglück von Eschede
Notarzt Ewald Hüls: „176 Leichenteile wurden eingesammelt – Die Bilder haben sich eingebrannt"
von Jessica Sander und Alexander Gurgel
Es war eines der schlimmsten Zugunglücke aller Zeiten und die Bilder haben sich eingebrannt!
25 Jahre nach der Katastrophe von Eschede erinnert sich der leitende Notarzt Ewald Hüls an den Tag, der alles verändert hat. „Die Menge an Leichen auf einer Stelle zu sehen, das lässt mich nicht los.“
Es war der 3. Juni 1998
„Es war ein wunderschöner Tag, es war hell und warm und das was passiert ist, das war ein absolut krasser Gegensatz”, beschreibt Notarzt Ewald Hüls den Tag des Zugunglückes von Eschede. Und diese Diskrepanz, so der 66-Jährige, blieb den ganzen Tag erhalten. „Egal, ob man Leichen geborgen hat oder mit anderen Aufgaben beschäftigt war.“
Es ist der 3. Juni 1998. Der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ ist auf der Fahrt Richtung Hamburg als plötzlich an der dritten Achse des ersten Wagens ein Radreifen bricht - bei einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern.
Es kommt zum größten Zugunglück seiner Zeit. 101 Menschen sterben, 88 werden schwer verletzt.
Ewald Hüls ist der leitende Arzt vor Ort. Heute, 25 Jahre später, treffen wir ihn in seinem Garten in Winsen an der Aller (Niedersachsen). Sein Haus ist nur eine knappe halbe Stunde vom damaligen Unglücksort entfernt. Mittlerweile ist der 66-Jährige Rentner – raus aus dem hektischen Treiben als Notarzt. Wenn er aber auf sein Leben blickt, dann gehört dieses Ereignis vor 25 Jahren mit zu den einschneidendsten.
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Das war viel größer als alles bisher Erlebte
Ewald Hüls ist damals Unfallchirurg in der Klinik in Celle und ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes als der entscheidende Anruf kam: „Ich kam dann runter und dann wurde gesagt, da ist irgendwas mit dem Zug“, erzählt der 66- Jährige. Sein erster Gedanke damals, es könnten Castorgegner sein, die die Strecke blockieren. An ein Zugunglück dieses Ausmaßes dachte er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Bedrückendes Gefühl an Unfallstelle in Eschede
Doch so näher sie der Unfallstelle kommen, so bedrückender wird das Gefühl. „Wir sind dann auf dem Brückenkopf hochgefahren und da lag der ICE dann eben direkt vor uns. Ja, das habe ich auch heute noch genauso in Erinnerung. Auch das Gefühl, diese steigende Unruhe.“
Und dann war da dieser Moment, wo er sich fragte: „Was mache ich denn jetzt hier eigentlich? Was ist meine Aufgabe?“ erinnert sich der damalige Unfallchirurg und ärtzliche Leiter des Rettungsdienstes. Klar ist, er muss handeln. Aber alles, was er vorher gelernt hatte, „alle Standards aus dem Rettungsdienst waren aufgehoben“, so Hüls. Denn das war viel größer als alles bisher Erlebte.
Es ging um jede Minute
Obwohl er eigentlich Notarzt war, durfte er an diesem Tag niemanden behandeln. Seine Aufgabe war eine andere. „Und das ist schon auch noch eine besondere Herausforderung, den Hilferufen dann nicht nachzukommen, sondern sich um seine Aufgabe zu kümmern, Organisation und Führung aufzustellen.“
Seine Fähigkeiten als Chirurg waren auch eh nicht gefragt. „Man kann dort nicht operieren.“ Es gehe ums Bergen, Stabilisieren und die Kreislaufatmung herzustellen, denn wer fünf Minuten nicht atmet, hat alleine schon bleibende Schäden und ist kurz danach auch tot“, so der Arzt.
Auch die Bergung selber war eine Herausforderung. Einfach in die Zugteile hineinspazieren- unmöglich. Die Helfer benötigten eine Leiter und die Scheiben konnten nur mit Spezialwerkzeug geöffnet werden.
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Mehr als 176 Leichenteile wurden gesammelt
Über 200 Fahrgäste waren in dem Zug. „Nach etwa drei Stunden konnten alle Patienten soweit geborgen werden und waren auf dem Weg in die Klinik“, erzählt der Arzt. Aber es sei völlig unklar gewesen, wie viele Personen noch in dem Zugteil saßen, der zusammengeschoben war.
Nach der ersten Nacht gibt es auch kaum noch Hoffnung, Überlebende zu finden. Der Einsatz konzentriert sich immer mehr auf das Bergen der Toten und Leichenteile. Und das ist auch die eine Szene, die sich bei dem 66-Jährigen mehr eingebrannt habe als viele Andere und bei der seine Stimme das einzige mal kurz versagt. „Es sind über 176 Leichenteile zusammengesammelt worden, deren Zuordnung noch völlig unklar war. Was gehört jetzt zusammen? Und die lagen in der Lagerhalle, von der Sonne geschützt.“
Seine Erfahrung konnte Ewald Hüls weiter geben
Zu bewältigen ist das nur, indem sich der Arzt auf seine Aufgabe konzentriert „und die wirklich bewusst nach vorne holt“, so der 66- Jährige. Der Blick auf das Leben hat sich seitdem radikal verändert: „Sicher ist, dass alles an jedem Tag irgendwann von jetzt auf gleich vorbei sein kann. Also das Leben selber hier auf der Erde ist begrenzt. Für manche ganz kurz, für andere länger“, siniert der ehemalige Arzt. Er geht seit dem Ereignis noch bewusster mit dem Leben um. Eine Angst, in einen Zug zu steigen habe er aber nicht entwickelt: “Ich steige völlig unbedarft in Züge, Flugzeuge und Autos. Das Leben ist immer mit einem Restrisiko verbunden.“
Die Erfahrungen aus dem Unglück hat er genutzt, um andere Notärzte zu schulen, dafür ist er dankbar. Auch für die vielen Begegnungen, zu denen es sonst nie gekommen wäre. Zusammen haben sie dieses Unglück gemeistert und zusammen werden sie sich immer daran erinnern.