Überlebende Mobilisierte berichten von ihren Erlebnissen in den Schützengräben

Von 570 überleben nur 41: Ganze Bataillone russischer Rekruten an Front vernichtet

Russland, Verabschiedung von Rekruten in Kasan RUSSIA, KAZAN - OCTOBER 23, 2022: Mobilized Russian citizens are seen at an assembly station at the Kazan Expo International Exhibition Center ahead of departing for the zone of Russia s special military operation. Russian President Vladimir Putin signed a decree on partial military mobilization in Russia on September 21. Yegor Aleyev/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY 55508728
Russland: Verabschiedung von Rekruten in Kasan. (Symbolbild)
www.imago-images.de, IMAGO/ITAR-TASS, IMAGO/Yegor Aleyev
von Ellen Ivits

Mit mobilisierten Soldaten will Russland die Lücken in den Angriffslinien in der Ukraine stopfen. Ganze Bataillone werden dort in die Schützengräben geworfen – und dort ihrem Schicksal überlassen. Überlebende berichten von schweren Verlusten.
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"Von 570 Menschen sind 29 unversehrt geblieben" - ein Überlebender berichtet

"Von 570 Menschen sind 29 unversehrt geblieben, 12 weitere sind verletzt. Der Rest ist erledigt." Dieses schockierende Fazit zieht Alexej Agafonow. Er gehört zu den Überlebenden und berichtet nun von dem Schicksal seiner Einheit. Seiner Darstellung zufolge wurde er zusammen mit anderen mobilisierten Soldaten in der Militäreinheit 2079 zum Einsatz an der Front vorbereitet. Der Kommandeur des mobilisierten Bataillons habe jedoch versprochen, die frisch eingezogenen Rekruten würden in die Region Swatowo abkommandiert, wo sie sich der so genannten "territorialen Verteidigung" anschließen könnten – 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt.

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Doch der Kommandeur habe sein Wort nicht gehalten. In der Nacht vom 1. auf den 2. November sei das gesamte Bataillon zu den Gefechtslinien gebracht worden. "Wir wurden in die Schützengräben geworfen. Man sagte uns, wir sollten uns eingraben. Wir hatten drei Schaufeln pro Bataillon, es gab überhaupt keine Versorgung", erzählte Agafonow dem unabhängigen russischen Medium "Werstka".

Mobilisierte werden in Luhansk an die Front geworfen - "Die Offiziere rannten sofort weg"

"Wir gruben uns ein, so gut wir konnten. Und am Morgen begann der Beschuss: Artillerie, Raketen, Mörser, Drohnen. Wir wurden einfach niedergeschossen", berichtete er voller Schrecken. Und als ob das nicht genügt, hätten die Kommandeure das Bataillon aus Mobilisierten im Stich gelassen. "Als alles begann, rannten die Offiziere sofort weg", sagte Agafonow.

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"In den Pausen zwischen den Beschüssen, versuchten wir uns einzugraben. Aber die Drohnen entdeckten uns sofort und erschossen uns einfach." Seiner Rechnung zufolge überlebten aus seinem Bataillon nur 41 Männer.

Agafonow ist sich zudem sicher, dass in denselben Schützengräben bereits zuvor mindestens ein weiteres Bataillon von Mobilisierten aufgerieben worden ist. Er habe Dutzende von Leichen gesehen. "Im Fernsehen wird uns erzählt, dass alles wunderbar ist. Tatsächlich werden hier in der Region Luhansk die Mobilisierten an die Front geworfen." Als sich die Überlebenden seines Bataillons zurückzogen, hätten sie gesehen, dass sich in der dritten Angriffslinie nur Vertragssoldaten und Freiwillige befinden. "Die Mobilisierten werden hingegen nach vorne geworfen", so Agafonow.

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Moskau will mit frischen Rekruten und Überlebenden die Lücken der russischen Verteidigungslinie schließen

Aus ganz Russland würden Rekruten in der Region Swatowo zusammengezogen werden, um die Lücken in der Verteidigung zu schließen. In der Stadt, wohin sich die Soldaten seiner Einheit zurückgezogen haben, beobachte er Überlebende aus anderen besiegten Bataillonen – in Gruppen von zwei bis fünf Personen.

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"Hier herrscht völlige Verwirrung und Chaos. Alle Überlebenden und Neuankömmlinge werden in neue Bataillone gruppiert und an die Front geworfen, um die Verteidigungslinie zu schließen."

Weitere überlebende russische Rekruten stützen den Bericht

Die Ehefrau eines anderen Mobilisierten stützt den Bericht von Agafonow. "Er rief mich morgens von einer fremden Nummer an und erzählte mir, was passiert ist; dass sie Schützengräben ausheben mussten, von Mörsergranaten eingedeckt wurden und sich irgendwie von Krasnodon nach Swatowo retten konnten, wo sie sich jetzt verstecken", berichtete Ludmila Tschernych.

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"Sie haben jetzt Angst, irgendwohin zu gehen. Sie haben sogar Angst, zu den Checkpoints zu gehen. Die Befehlshaber haben sie im Stich gelassen und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie bitten einfach nur um Hilfe", sagte sie.

Angehörige fordern Antworten: 'Wie sollen sie lebendig sein, wenn sie dort alle getötet werden?'

Am vergangenen Samstag versammelten sich Angehörige mehrerer Mobilisierter vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft von Woronesch und forderten, ihnen die Wahrheit über das Schicksal ihrer Angehörigen mitzuteilen. "Am Telefon sagt man uns, dass unsere Söhne am Leben und gesund sind und ihre Pflicht erfüllen. Wie zum Teufel sollen sie lebendig und gesund sein, wenn sie dort alle getötet werden?", fragte eine verzweifelte Oksana Cholodowa, Mutter des Soldaten Andrei Cholodow.

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Die Frau eines anderen Mobilisierten, Anna, erzählte, dass die überlebenden Mobilisierten nur noch darum bitten, nach Hause gehen zu dürfen. "Sie können sich jetzt nicht da aufhalten, sie haben Angst. Dort werden sie bombardiert. Keine Kommandeure, niemand da. Wir wollen, dass alle erfahren, was sie mit den Jungs getan haben. Sie wurden wie Kätzchen ausgesetzt, ohne Vorbereitung, ohne irgendetwas."

Sie sollten sich eingraben - mit einem Spaten für 30 Mann

Angehörige von mobilisierten Soldaten erhoffen sich nun Hilfe vom Gouverneur und richteten einen Appell an ihn. "Wir möchten den Gouverneur und die höheren Behörden um Hilfe für unsere Mobilisierten bitten, die am 12. Oktober eingezogen und anschließend in die Stadt Valuyki abkommandiert worden sind, wo sie umgruppiert und in Richtung von Luhansk geschickt wurden", heißt es in der Videobotschaft.

"Am Tag ihrer Ankunft wurden sie an die vorderste Linie geworfen. Alle Kommandeure verließen das Schlachtfeld und flohen. Sie sagten, sie würden bald zurückkehren und den Mobilisierten ihre persönlichen Sachen mitbringen. Nach 40 Minuten waren sie aber immer noch nicht zurückgekehrt. Es begann ein Beschuss mit Granatwerfern, Mörsern und anderen Waffen", so die schweren Vorwürfe in Richtung des russischen Kommandos.

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"Der Kampf dauerte drei Tage. Das berichteten die Mobilisierten und ganz konkret mein Ehemann", führt die Frau eines Soldaten weiter aus. "Unsere Kämpfer haben überlebt, wie sie konnten. Mit Handfeuerwaffen. Um ganz genau zu sein, haben sie vier Magazine für Maschinengewehre oder Kalaschnikows und Schutzwesten bekommen. Sie haben nicht geschlafen, nicht gegessen. Drei Tage lang haben sie die Verteidigung aufrechterhalten und sind im Gegensatz zu den Kommandeuren nicht geflohen“, heißt es in dem Appell. "Ihnen wurde befohlen, sich einzugraben. Aber auf 30 Mann hatten sie nur einen Spaten", fügt eine andere Angehörige in der Videobotschaft hinzu, um die Zustände in der russischen Armee deutlich zu machen.

Nun fordern die Familien der überlebenden mobilisierten Soldaten, ihre Söhne und Männer von der Frontlinie abzuziehen. Die Liste, die sie erstellt haben, umfasst 41 Personen. Nur 31 Personen haben Kontakt aufgenommen. Das Schicksal der anderen ist nicht bekannt.

Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst bei stern.de.