Reportage aus Jackson, der “Mörderhauptstadt der Nation”
Kriminalität in den USA: "Er hat ihn regelrecht hingerichtet”
Schießereien, Gewaltausbrüche, Angriffe in der U-Bahn – seit Beginn der Corona-Pandemie steigen die Kriminaltitätsraten vor allem in den Großstädten in den USA immens an. Und so ist die Kriminalität eines der Top-Themen, die die Wähler bei den so genannten Midterms, also den Zwischenwahlen, bewegt.
Noch nie starben so viele Menschen durch Waffengewalt. Und nirgends sterben so viele wie in Jackson, Mississippi. Die Kleinstadt ist innerhalb der vergangenen Jahre zu einer der tödlichsten Städte der USA geworden. Die Aufklärungsrate erschreckend gering.
Jackson bekam den berüchtigten Titel "Mörderhauptstadt der Nation"
Tonjula Mason-Shelby beschreibt den 12. April 2017 als den schlimmsten Tag ihres Lebens. Denn am Abend dieses 12. April bekommt sie um 22:07 Uhr einen Anruf: ihr Sohn Kimondra wurde angeschossen. “Der Täter hat neun Mal auf ihn geschossen”, erzählt sie mir, “Neun Mal. Er hat ihn regelrecht hingerichtet.” Kimondra verstirbt noch am Tatort.
Die Geschichte von Tonjula Mason Shelby steht stellvertretend für das Leid hunderter Familien in Jackson. Hunderte Familien, die trauern. Familien, die einen geliebten Menschen verloren haben. Und deren Mörder meist frei herumlaufen. In einer Kleinstadt von knapp 150 Tausend Menschen. Eine Kleinstadt, die in den vergangenen Jahren berüchtigten Titel “Mörderhauptstadt der Nation” erlangt hat. Nirgendwo werden, runtergerechnet auf die Einwohner, so viele Menschen ermordet wie hier.
Hoffnung, dass die "Kinder nicht zur Beerdigung ihrer Klassenkameraden gehen müssen"
Die Kriminalität ist zum traurigen Alltag in dieser Stadt geworden. Jeder, wirklich jeder, ist mit der Gewalt, vor allem der Waffengewalt irgendwie in Berührung. Kennt jemanden, der betroffen ist, oder musste dieses Leid selbst erfahren. So wie auch Pastor Lorenzo Neal. Er verlor seine Mutter und seinen Neffen durch sinnlose Waffengewalt. 90 Prozent der Taten in Jackson erzählt mir Pastor Neal, werden von schwarzen Männern im Alter von 16 bis 30 Jahren begangen. Jeden Sonntag spricht er in seinem Gottesdienst die Folgen und Ursachen der Waffengewalt in der Stadt an.
„Das größte Problem ist es, dafür zu sorgen, dass Kinder keinen Zugang zu Waffen haben.”, sagt Neal. “Der zweite Punkt ist die mentale Gesundheit. Die Pandemie hat viele Probleme hervorgerufen, auf die nicht angemessen reagiert wird. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass man in schwarzen Familien nicht über seine Probleme spricht.“
Und rund 80 Prozent der Bevölkerung in Jackson ist schwarz. Pastor Neal zeigt mir den Park vor seiner Kirche. Er liegt neben einer früheren Schule, das Wohngebiet ist heruntergekommen. Hier in diesem Park haben früher immer Kinder gespielt. Heute ist das nicht mehr so. Schüsse sind in dieser Nachbarschaft zu jeder Tages- und Nachzeit völlig normal.
“Meine Hoffnung ist, dass die Kinder hier in Jackson nicht in Angst leben müssen, nicht zur Beerdigung ihrer Klassenkameraden gehen müssen, oder dass ein Kind festgenommen wurde, weil es einen Gewaltakt mit einer Waffe begangen hat.”, sagt Pastor Neal noch am Schluss unserer Interviews. Er habe Hoffnung, dass Jackson das Blatt wenden könne.
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"Wir versuchen, Kinder davon abzuhalten, dieselben Fehler zu begehen, die wir gemacht haben”
Ein Weg, diesen Kids eine neue Perspektive zu geben, sind so genannte Violence Interrupter wie Benny Ivey. Vor vier Jahren hat er die Organsiation “Strong Arms of Mississippi” gegründet. Jeder Mitarbeiter hier hat seine eigene Knast-Vergangenheit.
So wie auch Ivey selbst. “Meine Eltern waren Drogenabhängige. Wir sind in Häuser eingebrochen, haben Drogendealer ausgeraubt, damit meine Familie Abends Crack rauchen konnte. Ich habe insgesamt 11 Jahre gesessen. Und wir versuchen, diese Kinder davon abzuhalten, dieselben Fehler zu begehen, die wir gemacht haben.”, beschreibt Ivey das Programm.
Studien belegen den Erfolg solcher Programme. Meist fehlt dafür aber das Geld von Stadt, Staat oder dem Bund. Und Mississippi gehört zu den ärmsten Staaten im ganzen Land. In Jackson spürt man an jeder Ecke eine Art Perspektivlosigkeit. Und hier sieht auch Ivey ganz das Problem. “Die Stadt ist 30-40 Jahre von der Politik komplett vernachlässigt worden.”, sagt er. “Die Kinder denken hier, sie kommen aus der Gosse und kommen da auch nicht raus. Schlaglöcher und Müll überall. Und dann kommt hinzu, dass viele dieser Kinder ohne Vater aufwachsen, ohne wirkliches Vorbild. Also wir kämpfen hier nicht nur darum, eine Mentalität zu ändern, sondern eine ganze Kultur.”
Jeden Abend kommen die Jugendlichen in ein Zentrum, dass die Stadt den Violence Interruptern zur Verfügung gestellt hat. Die Kids sind zwischen 12 und 17 Jahren, in Gruppengesprächen mit den Mentoren, denen sie vertrauen, können sie alles ansprechen, was sie bewegt. “Wir sind nicht so naiv dass wir denken, wir können jeden einzelnen retten, aber wir können etwas bewegen.”, betont Ivey. “Wenn wir mehr solcher Programme hätten, in allen Gebieten der Stadt, dann könnten wir Morde verhindern.”
Denn Jackson hat zwei weitere riesen Probleme: zu wenig Polizisten und zu wenig Personal um die ganzen Fälle richtig zu bearbeiten. Die Gerichte laufen den Verfahren seit 2015 hinterher. Und so ist auch der Mörder von Tonjulas Sohn noch immer auf freiem Fu?. Für Tonjula eine Tortur, die einfach kein Ende nehmen will. “Ich kann nicht abschließen.”, erzählt sie mir, die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. “Wenn du keine Gerechtigkeit hast, kannst du das nicht abschließen. Das kann ich auf keinen Fall. Die Leute sagen: ‘Oh, warum lebst du nicht einfach dein Leben weiter?’ Ich soll also einfach ignorieren, dass es Regeln und Gesetze dafür gibt, wenn jemand ein Verbrechen begangen hat?”.
Gerechtigkeit für ihren Sohn, die Hoffnung darauf will und wird Tonjula nicht aufgeben. Genau wie all die anderen Familien in Jackson, Mississippi.
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