Empörung und Unverständnis an Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen
Fleißig, integriert - und abgeschoben: Schule kämpft für Katia (17) und Mervan (18)
Die Geschwister Katia (17) und Mervan Kheder (18) könnten als Musterbeispiele gelungener Integration junger Flüchtlinge in Deutschland gelten. Könnten. Denn die Behörden haben die Kinder aus Syrien mit ihrer Mutter nach Bulgarien abgeschoben. Obwohl sie allseits beliebt sind, fleißig, sogar Ausbildungsverträge haben, sollen sie hier nicht mehr leben dürfen. Viele Menschen können das nicht verstehen und setzen sich für die Kheders ein. Allen voran Mitschüler und Lehrer der Walter-Lübcke-Schule im hessischen Wolfhagen.
Katia und ihre Familie hoffen, dass sich das Blatt noch wendet

Sie haben eine Petition verfasst und ein Spendenkonto eingerichtet und tun alles dafür, damit Katia, Mervan und die Mutter der beiden so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkehren können. Seit vier Wochen leben die drei in einem kleinen Hotelzimmer in der bulgarischen Hauptstadt Sofia und klammern sich an die Hoffnung, dass sich das Blatt noch wendet.
Die Familie stammt aus Syrien. 2017 verlassen sie ihr Heimatland wegen des anhaltenden Bürgerkriegs, fliehen über die Türkei nach Europa. Der Vater der Familie gilt als tot. Die drei wollen nach Deutschland. Sie sind überzeugt, dass Deutschland Menschen wie ihnen eine Perspektive bietet. Über Griechenland gelangen sie nach Bulgarien, wo sie registriert werden – was sich als verhängnisvoll erweisen wird.
Zu keiner Zeit haben sie vor, dort zu bleiben, fliegen in die Niederlande, von wo aus sie endlich ihr Ziel erreichen. Deutschland. Wolfhagen, ein 13.000-Einwohner-Städtchen in der Nähe von Kassel soll ihre neue Heimat werden.
Alle mögen Familie Kheder: "Hilfsbereite, liebe und umsichtige Menschen"

Sie stellen einen Asylantrag, die Kinder gehen zur Schule, alle sind bemüht, sich an das Leben in der neuen Heimat anzupassen. Katia und Mervan finden schnell Anschluss, sie sind beliebt, freundlich und hilfsbereit. Henning Riedel, Sozialarbeiter an der Walter-Lübcke-Schule, sagt: "Die Kheders sind eine sehr nette Familie, es sind hilfsbereite, liebe und umsichtige Menschen." Das gelte für Katia und Mervan ebenso wie für ihre Mutter Aziazh, die in der Flüchtlingsunterkunft sehr engagiert gewesen sei und ehrenamtlich Mund-Nasen-Bedeckungen herstellte.
Der Asylantrag wird abgelehnt. Dagegen klagen die die Kheders, doch die Klage scheitert. Im Dezember wird ihnen die Abschiebung nach Bulgarien angedroht. Jenem Land, in dem sie erstmals in Europa registriert wurden und daher "subsidiären Schutzstatus" genossen, wie es in unpersönlicher Behördensprache heißt. Für die Kheders ein Schock. Als sie Freunden und Lehrern davon erzählen, überlegen alle, was sie tun können.
Beide Jugendliche finden auf Anhieb eine Lehrstelle

Katias Englischlehrer Stefan Zindel überzeugt die Geschwister, sich möglichst schnell eine Ausbildungsstelle zu suchen. Damit sollte zumindest eine Duldung in Deutschland sichergestellt sein, davon gehen alle aus. Mervan hat seinen Hauptschulabschluss gemacht, er arbeitet bei einem Versandhandel. Weil er handwerklich geschickt ist und dies unter Beweis stellt, bekommt er die Zusage, bei einem Bauunternehmen in die Lehre zu gehen. Er gibt sogar seinen Job auf, um bei seinem neuen Arbeitgeber ein Praktikum zu machen, ehe die Ausbildung beginnt.
Seine Schwester, die insgeheim von einem Medizinstudium träumt, steht vor dem Realschulabschluss. Weil eine Schulausbildung nicht automatisch zur Duldung führt, bewirbt sie sich um einen Ausbildungsplatz in einer Altenpflegeeinrichtung. Und wird dort angenommen. Sozialarbeiter Riedel ist beeindruckt, dass beide so schnell eine Lehrstelle fanden: "Es gibt so viele ungeeignete Bewerber, aber beide Betriebe haben sich nach nur einem Gespräch für Katia und Mervan entscheiden."
"Sie müssen leider dieses Land verlassen, Abschiebung nach Bulgarien"

Die Kheders sind erleichtert, fest davon überzeugt, dass die drohende Abschiebung damit vom Tisch ist. "Wir haben uns sicher gefühlt, als wir Ausbildungsverträge hatten. Ich war tausendprozentig sicher, dass wir in Deutschland bleiben", so Mervan. Er irrt sich. Am 24. März rückt mitten in der Nacht plötzlich ein größeres Polizeiaufgebot in ihrer Unterkunft an. Er steht mit seiner Mutter am Fenster, beide ahnen nicht, dass der Einsatz ihnen gelten könnte. Die etwa 15 Polizisten sind sicher wegen einiger Jungs gekommen, die "öfter mal Stress gemacht" hätten, sagt er. Umso größer der Schock, als die Polizisten plötzlich bei ihnen klopfen und es heißt: "Sie müssen leider dieses Land verlassen, Abschiebung nach Bulgarien. Sie dürfen leider nicht bleiben."
Auch seine Schwester kann es nicht fassen. "Ich habe immer gedacht, gleich ruft Herr Riedel an und sagt, nein, ihr bleibt hier", sagt sie. Stattdessen werden ihnen die Handys abgenommen, sie haben kaum Zeit, das Nötigste einzupacken. Die Kheders werden nach Frankfurt gebracht. Dort dürfen sie zwei Gespräche führen, mit einem fremden Telefon. Ihre eigenen bekommen sie erst in Sofia zurück. Ein Anruf erreicht Henning Riedel. Er ist "fassungslos, schockiert", als er Mervan sagen hört: " Herr Riedel, sie können es sich nicht vorstellen, wir sind abgeschoben worden."
Mitschüler und Freunde "anfangs geschockt, dann traurig und wütend"

Immerhin erreicht Mervan auch einen Freund in Deutschland, der Menschen in Bulgarien kennt und dafür sorgt, dass die Familie in einem günstigen Hotel unterkommt. Auch wenn zuhause in Wolfhagen die Empörung groß ist, regt sich umgehend Hilfsbereitschaft. Ohne Unterstützung hätte der Familie ein ungewisses Schicksal gedroht. "Die wurden in Sofia aus dem Flieger geworfen, jeder hat 250 Euro bekommen und das war's", erzählt Lehrer Stefan Zindel.
Er ist ebenso empört wie Freunde und Mitschüler von Katia und Mervan. Charlotte Krapf (16) und Linus Babel (17) von der Walter-Lübcke-Schule gehören dazu. "Wir waren anfangs geschockt, dann traurig und wütend", so Linus, der Schulsprecher ist. Die Schule reicht eine Petition im Hessischen Landtag ein und sammelt Spenden. Damit die Familie wenigstens die karge Unterkunft in Sofia bezahlen und sich mit dem nötigsten versorgen kann. Weil sie nicht einmal Ausweispapiere haben, traut sich im Moment nur Mervan aus der Unterkunft. Mutter und Tochter "leben seit fast einem Monat im Hausarrest im Hotel", sagt Sozialarbeiter Riedel fassungslos.
Katia nimmt aus Sofia per Video am Unterricht teil

Alle geben sich Mühe, den Kheders Hoffnung zu machen. Es sei schön, ihre Freundin im Online-Unterricht zu sehen, erzählt Mitschülerin Charlotte. Für Katia dennoch eine schwierige Situation. Da sie kaum etwas aus Deutschland mitnehmen durfte, hat sie im Moment nicht einmal Schulhefte und Stifte, erzählt sie. Eingesperrt im Hotelzimmer könne sie kaum etwas machen.
Um die Familie aus ihrer misslichen Situation herauszuholen und im Idealfall nach Deutschland zurückzuholen, sind die Unterstützer nun auf der Suche nach einem guten Anwalt. Denn ohne starken rechtlichen Beistand werden sie vermutlich die staatlichen Hürden nicht überwinden können, fürchten Riedel und Zindel. Sie hoffen darauf, dass die Spendenbereitschaft anhält, denn mit dem bisher gesammelten Geld kann die Familie im Alltag in Sofia unterstützt werden, doch ein teurer Rechtsanwalt ist davon nicht zu bezahlen.
Behörden haben kein Einsehen

Die deutschen Behörden jedenfalls scheinen nicht gewillt, Katia, Mervan und Aziazh eine rasche und unbürokratische Rückkehr zu ermöglichen. Das Regierungspräsidium Kassel verweist in einer schriftlichen Stellungnahme auf den "subsidiären Schutzstatus", den die Familie in Bulgarien genieße. Die Asylanträge in Deutschland seien abgewiesen worden, eine Duldung habe nicht gewährt werden können, da Fristen zum Beispiel zur Vorlage der Ausbildungsverträge versäumt worden seien.
"Die Zentrale Ausländerbehörde beim Regierungspräsidium Kassel ist als Vollzugsbehörde an die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und des Verwaltungsgerichts Kassel gebunden", heißt es zudem.
"Geduldig bleiben. Der Kampf geht weiter. Wir schaffen das!"

Der Kasselaner Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels sieht das komplett anders. "Aus meiner Sicht geht das alles nicht. Die Ausländerbehörde hätte hier ihren Ermessenspielraum nutzen müssen", sagt der SPD-Politiker auf RTL-Nachfrage.
Ob in dem Fall eine zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann und wie lange das dauert, ist nicht abzusehen. Sicher ist jedenfalls, dass die Helfer nicht aufgeben. Die Kheders sind gerührt, bedanken sich im Videotelefonat immer wieder für die tolle Unterstützung. "Das machen wir alle total gern", versichert Charlotte Köpf ihrer Freundin Katia. Lehrer Zindel unterstützt: "Geduldig bleiben. Der Kampf geht weiter. Wir schaffen das!" Sozialarbeiter Reidel hat den "Traum, dass die Familie zu dritt so schnell wie möglich zurückkehren kann."
UVO