Deutschland holt seine Staatsbürger nicht zurück
Deutsche IS-Kämpfer: Vom Kalifat in den Kurden-Knast
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Von Gabriel Chaim, Tom Kollmar und Christian Berger
Sie wollten ins Kalifat und sitzen nun im Knast. Über 1.150 Deutsche schlossen sich der Terrormiliz Islamischer Staat an, nach deren Zusammenbruch wurden viele verhaftet und eingesperrt. Deutschland holt seine Staatsbürger nicht zurück, die ehemaligen Kämpfer harren in den Gefängnissen aus. Auch in den Gebieten der Kurden.
Bis zu 12 Häftlinge teilen sich eine Zelle
Im Norden Syriens scheint die Sonne im Schnitt mehr als acht Stunden am Tag, doch in den langen und dunklen Gängen des Gweiran-Gefängnisses kommt davon nichts an. Das wenige Licht spenden Lampen an der Decke, die kahlen Wände sind so grau wie die Gitter- und Zellentüren. Die Gefangenen, die sich mit bis zu 12 anderen Häftlingen eine Zelle teilen, sehen davon nichts. Führen die Wärter die Insassen aus ihren Zellen, sind ihre Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt.
In dem Gweiran-Gefängnis sitzen Soldaten des Islamischen Staates ein, die die kurdischen Kämpfer der SDF (deutsch: Demokratische Kräfte Syriens) nach dem Zusammenbruch der Terrortruppe in Syrien festgenommen haben. Es sind Tausende, kommen aus der ganzen Welt und sitzen nun im dunklen Kurden-Knast. Diese trostlosen Gänge des Gweiran-Gefängnisses hat schon lange kein Journalist mehr betreten und deutsche Behörden erst recht nicht. Dabei sitzt hier auch ein Mann aus Frankfurt ein, der für Jahre Teil des IS gewesen ist. Seinen echten Namen dürfen wir nicht schreiben, wir nennen ihn Serdar. Wie seine Mithäftlinge wurde er von den Kurden verhaftet, im März 2019 sei das gewesen, so der Deutsche.
"Ich bin seit vier Jahren ohne jegliche Nachrichten“
Zum Gespräch wird Serdar von den Soldaten in einen weißen und schmucklosen Raum geführt. Sein ausgeblichener Nike-Trainingsanzug ist so farblos wie das Gefängnis, Serdars Gesicht sieht man an, dass er für vermutlich Jahre kein Sonnenlicht gesehen hat. Seit seiner Festnahme habe er weder Kontakt zu seiner Familie in Deutschland noch zu seiner Frau, die er in seiner Zeit beim IS geheiratet hat, gehabt. Ob sie oder die drei gemeinsamen Kinder noch leben, das wisse er nicht. Serdar ist völlig von der Außenwelt abgeschnitten, erzählt er. „Keine Ahnung wer momentan Kanzler ist. Ich weiß auch nicht, ob die Fußball-WM 2022 stattgefunden hat oder sonst etwas. Ich bin seit vier Jahren ohne jegliche Nachrichten“, berichtet Serdar.
Seine Geschichte bis zur Festnahme beschreibt er so: 2015 reiste er über Italien und der Türkei nach Syrien aus und schloss sich dort dem IS an. Seine erste Station war ein Gasthaus für ausländische Dschihadisten. Bei einem Luftangriff der Amerikaner wurde Serdar verletzt und musste anschließend auf Krücken umherlaufen. Gelebt hat er hauptsächlich in Rakka. „Ich habe nie gearbeitet oder etwas getan. Was kann ein Mann auf Krücken schon machen“, klagt er.
Serdar behauptet, er habe nie gekämpft, in den Unterlagen des IS wird er allerdings als Soldat geführt. Der Frankfurter sagt: „Ich habe dort nur gelebt. Ich war ein Einwohner. Ein Einwohner des Islamischen Staates.“
Doch Serdar ist den deutschen Sicherheitsbehörden bestens bekannt. Nach RTL/ntv-Informationen wird gegen ihn wegen seiner Tätigkeiten im Kalifat ermittelt, sollte er nach Deutschland zurückkehren, klicken wohl noch am Flughafen die Handschellen. Laut Bundesinnenministerium stehen alle Deutschen, die über einen längeren Zeitraum in den Gebieten des IS gelebt haben, unter besonderer Beobachtung und „im besonderen Fokus der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden“.
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Ministerium: Wurden keine mutmaßlichen IS-Kämpfer nach Deutschland geholt
Auf Anfrage, ob man in Zukunft plane, die ehemaligen Kämpfer nach Deutschland zurückzuholen, um sie hier vor Gericht zu stellen oder dies schon geschehen ist, teilt das Ministerium mit: „Die Bundesregierung hat keine Männer, die mutmaßlich für den IS gekämpft haben, aus Nordost-Syrien zurückgeholt.“ Begründet wird das wie folgt: „Für männliche Erwachsene gilt, dass vor Ort Strafverfolgungsansprüche gegen IS-Anhänger bestehen können.“
Fraglich ist, ob die Kurden ihre Strafverfolgungsansprüche wahrnehmen wollen. Dort hat man aktuell ganz andere Sorgen, seit Monaten greift die Türkei Ziele in Nordsyrien an. „Durch die Angriffe seitens der Türkei wird unsere Situation mit den IS-Häftlingen schwerer. Wir müssen einerseits unsere Familien und Kinder beschützen und dann uns noch um den IS kümmern“, erzählt uns eine SDF-Kommandantin. Und weiter: "Es gibt Staaten, die sind nicht einmal daran interessiert sind ihre Staatsbürger zurückzuholen, sie wollen nicht die Verantwortung tragen und zeigen sich nicht kooperativ.“ Wenn Staaten ihre IS-Häftlinge nicht direkt aufnehmen können, dann sollen sie den Kurden wenigstens finanziell unter die Arme greifen, so die Kommandantin. Es ist sei sehr schwierige Situation, die man nicht allein stemmen könne.
Anders als männliche Kämpfer hat Deutschland Frauen, die sich dem IS angeschlossen haben, zurück nach Deutschland geholt – sofern diese das wollen. Insgesamt gab es sieben solcher Rückholungen, in denen die Bundesregierung 27 Frauen, 81 Kinder und einen Heranwachsenden aus Nordost-Syrien nach Deutschland gebracht hat.
„Ich möchte eine bessere Zukunft für meine Kinder"
Weiter in Syrien ausharren, muss Aylin. Auch ihren Namen haben wir geändert. Aylin wurde zwar in Deutschland geboren und wuchs in Hamburg auf, allerdings nahm sie nie die deutsche Staatsbürgerschaft an. Alyin habe das nie für notwendig empfunden, als Türkin mit dauerhafter Aufenthaltsgenehmigung habe das nie einen Unterschied gemacht, erzählt sie uns. Es ist eine Entscheidung, die sie nun wohl bereut. „Ich möchte raus aus dieser Gefangenschaft“, sagt Aylin.
Auch sie folgte dem Traum vom Kalifat und reiste ins IS-Gebiet aus. Dort heiratete Aylin einen Deutsch-Kosovaren, die beiden haben drei gemeinsame Kinder. Ihr Mann kam 2017 ums Leben. Aylin und die Kinder befinden sich seit einem gescheiterten Fluchtversuch aus Syrien im Roj-Camp. Die größten Opfer der Situation sind die kleinsten Bewohner: Die Kinder. Sie sind unverschuldet in dieser Situation, an eine normale Kindheit ist nicht zu denken. Lediglich in Fußballplatz in der Mitte des Lagers bietet etwas Abwechslung im tristen Alltag.
Das Camp ist die unfreiwillige Heimat für Frauen und Witwen von IS-Kämpfern und deren Kinder. Sie sitzen zwar nicht in Gefängniszellen, allerdings umgibt das Gebiet ein hoher Zaun. Im Camp patrouillieren bewaffnete SDF-Kämpfer. „Ich möchte eine bessere Zukunft für meine Kinder. Sie sollen frei sein und die Welt sehen“, klagt Aylin. Doch für die schlechten Zukunftschancen ihrer Kinder ist nur eine Person verantwortlich – sie selbst.
Im Kurden-Knast ohne Sonnenlicht fragen wir Serdar, ob er es bereut, sich dem IS angeschlossen zu haben. Er überlegt kurz, atmet dann laut aus. „Kein Kommentar“, presst er angesäuert hervor. Er will den Eindruck erwecken, als lasse ihn die Situation kalt. Doch in seinem Gesicht sieht man, wie sehr ihn diese Frage nervt.
Die Bundesregierung vermutet, dass über 200 Personen aus Deutschland in Gefängnissen in Syrien, dem Irak oder der Türkei sitzen. Viele davon in einem Kurden-Knast. Es sind Menschen wie Serdar oder Aylin und ihre Kinder. Menschen, mit denen Deutschland die Kurden allein lässt.
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