Gewinner gibt es in diesen Fällen nie

Wenn Kinder von ihren eigenen Eltern entführt werden - was steckt dahinter?

Ein Vater und sein kleiner Sohn gehen über einen Bahnsteig neben einem Zug der Deutschen Bahn zu ihrem Waggon im Hauptbahnhof in Frankfurt am Main am 18.03.2008. Die beiden haben leichtes Gepäck dabei und der Mann hält das Kind an der Hand. Foto: Wolfram Steinberg +++(c) dpa - Report+++
Warum entführen Eltern ihre eigenen Kinder? (Symbolbild)
von Sarah Platz

Unkenntnis, Verzweiflung, Panik?
Eine Kindesentführung wie im Fall der Familie Block-Hensel ist spektakulär – allerdings längst kein Einzelfall. Alle zwei Tage verschwindet ein Kind aus Deutschland, entführt vom eigenen Elternteil. Mit ihrer drastischen Maßnahme stürzen die oft verzweifelten Mütter und Väter alle Beteiligten in eine Katastrophe.
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Das einstige Liebespaar Block-Hensel streitet seit Jahren ums Sorgerecht

ARCHIV - 17.09.2019, Hamburg: Christina Block, Unternehmerin, aufgenommen bei einem Pressegepräch. Den beiden Kindern, die nach einem Überfall auf ihren Vater in Süddänemark zeitweilig verschwunden waren, geht es nach Auskunft der Mutter gut. Die Kinder befänden sich bei ihr und seien wohlauf, ließ Christina Block, die Tochter des Gründers der Restaurantkette Block House, über eine Sprecherin des Unternehmens mitteilen. (zu dpa "Sorgerechtsstreit um Kinder eskaliert - Vater in Dänemark überfallen") Foto: Georg Wendt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Ließ Steakhaus-Erbin Christina Block ihre Kinder entführen?
gwe cul, dpa, Georg Wendt

Gewinnerinnen oder Gewinner gibt es in diesen Fällen nie. Wenn Sorgerechtsstreits eskalieren und Mütter oder Väter die eigenen Kinder entführen, stürzt das nicht nur der zurückbleibende Elternteil ins Dilemma. In den meisten Fällen beginnt für die ganze Familie ein kräftezehrender Alltag zwischen Anwälten, Behörden und Verlustangst. Während ein Großteil der Familienkrisen hinter verschlossenen Türen bleibt, verfolgt Deutschland derzeit beinahe live den besonders komplexen Fall um die Steakhouse-Erbin Christina Block, ihren Ex-Mann Stephan Hensel und die vier gemeinsamen Kinder.

Das einstige Liebespaar streitet seit fast zehn Jahren um das Sorgerecht. In der vergangenen Silvesternacht ereignete sich schließlich der traurige Höhepunkt des Konflikts: Die mittlerweile in Dänemark bei ihrem Vater lebenden jüngsten Geschwister Theodor und Klara schauten gerade dem Feuerwerk zu, als acht dunkel gekleidete Männer aus Autos sprangen, Vater Hensel zu Boden stießen und die Kinder in die Fahrzeuge zerrten. Anschließend fuhren sie zur 17 Kilometer entfernten deutschen Grenze, wie die Polizei Südjütland rekonstruierte.

Rund zwei Tage später bestätigte Christina Block, dass sich die Kinder bei ihr in Hamburg befinden. Im Anschluss rissen die Schlagzeilen über die Familie der millionenschweren Unternehmerin nicht ab: Es wurde gemunkelt, die 49-Jährige habe ehemalige Mossad-Agenten mit der Rückholung ihrer Kinder beauftragt.

Während dänische Behörden einen europäischen Haftbefehl gegen Block erließen, sprach ein dänisches Gericht Stephan Hensel vorläufig das alleinige Sorgerecht für die Kinder zu. Freitagabend folgte dann die wohl größte Wendung im bisherigen Fall: Theodor und Klara sind zurück bei ihrem Vater in Dänemark, das bestätigte Familie Block der Bild-Zeitung. Hintergrund ist eine Entscheidung im Eilverfahren des Oberlandesgerichts Hamburg.

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Kindesentziehungen kein Einzelfall, Dunkelziffer sehr hoch

Die thrillerhafte Nacht-und-Nebel-Aktion in der Silvesternacht sowie die vielen Wendungen rund um den Fall der Block-Hensel-Familie sind zweifellos besonders spektakulär. Die eskalierte Familienkrise, die dem Geschehen der vergangenen Tage zugrunde liegt, ist allerdings längst kein Einzelfall. Statistisch verschwindet jeden zweiten Tag ein Kind aus Deutschland durch einen Elternteil. 2022 zählte das Bundesamt für Justiz (BfJ) 187 neue Fälle von Kindesentziehungen, wie es gegenüber ntv.de mitteilt. Die meisten Kinder wurden demnach in die Türkei, nach Rumänien und nach Polen gebracht. Die Fallzahlen für das vergangene Jahr werden derzeit ausgewertet – allerdings sei „derzeit bereits ersichtlich, dass die hiesigen Fallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren in allen Bereichen insgesamt gestiegen sind“.

Zudem betont das BfJ, dass es lediglich jene Fälle von Kindesentziehungen zählt, bei denen der zurückgelassene Elternteil die Hilfe des Amtes in Anspruch nimmt. Dies ist jedoch keine Pflicht. Die Dunkelziffer der Kindesentziehungen dürfte damit noch weitaus höher liegen.

Die wenigsten dieser Fälle haben mit fremden Männern zu tun, die Kinder mitten in der Nacht in Autos zerren, erklärt die Familienrechtlerin Nicole Rinau im Gespräch mit ntv.de. So sei der Prozess oft viel schleichender. „Der klassische Fall ist, dass ein Elternteil mit den gemeinsamen Kindern in den Urlaub oder angeblich vorübergehend zu den Eltern ins Ausland fährt und dann einfach dort bleibt.“ Der Großteil der Kindesentziehungen passiere, so die Juristin, im Kontext binationaler Partnerschaften. Im Grunde sei dies wenig verwunderlich. „Oft möchte ein Elternteil nach der gescheiterten Beziehung zurück in sein Heimatland.“ Wenn er oder sie die Kinder dann einfach mitnimmt, ohne das alleinige Sorgerecht oder eine Zustimmung zu haben, „sind wir im Bereich der Kindesentführung“.

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Familienrechtlerin: Die meisten meiner Mandanten sind Männer

Und noch etwas fällt auf: „Bei Kindesentziehungen sind die meisten meiner Mandanten Männer“, sagt Rinau. Denn in den meisten Fällen entführt die Mutter das Kind oder die Kinder, nicht der Vater. Grund dafür seien auch unterschiedliche Mentalitäten und Kulturkreise. So fehle es nicht selten schlicht an dem Bewusstsein dafür, dass auch der Vater ein Sorgerecht hat und seine Fürsorge für das Kind auch tatsächlich leben möchte. Wenn die Beziehung dann scheitert, sei für die Mütter klar: Die Kinder bleiben bei ihr. „Auf die Idee, dass die Kinder auch bei dem Vater bleiben könnten oder mit ihm zusammen erzogen werden, kommen einige dieser Frauen gar nicht“, erklärt Rinau. „Die sind teilweise sogar überrascht, wenn man ihnen die Rechtslage erklärt.“

Ähnliche Erfahrungen macht auch die Familienrechtlerin Karin Susanne Delerue. Für Unkenntnis sorge in einigen Fällen auch das deutsche Vaterschaftsrecht. „Es gibt neben Deutschland und Österreich kaum noch Länder, in denen die Mutter mit der Geburt automatisch Alleinsorge hat, wenn sie nicht mit dem Vater verheiratet ist. Die gemeinsame Sorge besteht hierzulande nur dann, wenn die Eltern verheiratet sind oder die Mutter dem Vater die gemeinsame Sorge in einer gesonderten Erklärung, die nichts mit der Vaterschaftsanerkennung zu tun hat, eingeräumt hat“, erklärt die Juristin. „Es kommt daher vor, dass deutsche Mütter im Ausland fälschlicherweise davon ausgehen, dass sie mit dem Kind ohne Zustimmung des Vaters ver- oder ausreisen können.“

Neben unbeabsichtigten Entziehungsfällen sei allerdings auch die Angst vor der Rechtsprechung ein wichtiger Grund für Kindesentziehungen. „In Deutschland sorgen sich zum Beispiel viele Väter vor einer xenophoben, aber auch vor einer mütterorientierten Rechtsprechung“, erklärt Delerue, „Aus meiner Erfahrung kann ich dieses Gefühl allerdings nicht bestätigen.“

Auf der anderen Seite hätten Frauen vor allem in Ländern mit einer patriarchalisch geprägten Rechtsprechung oder dann, wenn sie die Sprache nicht verstehen, das Gefühl, nicht weiterzukommen. Die Kinder schließlich zu entführen, sei somit nicht selten auch eine Verzweiflungstat.

Im Video: Entführungsdrama um Block-Kinder - Psychologe schätzt im RTL-Interview die Lage ein

Wie läuft eine Rückführung ab? Welche Konsequenzen gibt es?

Somit dürfte hinter vielen Fällen der Kindesentziehung weitaus weniger kriminelle Energie oder Rachsucht stecken als vermutet. Zur Tortur für Kinder und Eltern wird der drastische Schritt des verzweifelten oder unwissenden Elternteils trotzdem. Für den zurückbleibenden Part beginnt nun der Lauf zu den Behörden – und ein zweigleisiges Verfahren. Da es aus familienrechtlicher Sicht um die Frage des Aufenthaltsbestimmungsrechts geht, empfiehlt Rinau ihren Mandanten in der Regel, in Deutschland schnell einen Antrag auf Alleinsorge oder zumindest alleiniges Aufenthaltsbestimmungsrecht zu stellen. „Allerdings hat man selbst dann erst einmal nur einen Beschluss“, betont die Juristin. „Wenn mein Kind im Ausland sitzt, muss ich mich in dem entsprechenden Land also parallel um die Rückführung kümmern und dort schnellstmöglich einen Antrag stellen.“

Das wichtigste Hilfsmittel dabei ist das seit 1980 geltende Haagener Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ), das von inzwischen mehr als 100 Staaten unterzeichnet wurde. „Wenn das Land, in das das Kind entführt wurde, das HKÜ unterschrieben hat, ist die Rückführung meist relativ koordiniert“, erklärt Rinau.

So gibt es spezielle Anlaufstellen, systematische Abläufe und vor allem ein gemeinsames Ziel: Das Kind, so schnell wie es geht, in das Ursprungsland zurückzuführen. Zwischen Antrag und Gerichtsentscheidung dürfen daher maximal sechs Wochen liegen.

Um das einzuhalten, wird bei der Entscheidung um die Rückführung weder über das Sorgerecht entschieden, noch spielt der Willen des Kindes oder eine mögliche Trennung von der Mutter eine Rolle. „Im Prinzip schaut sich der Richter nur an, wo der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes liegt und ob eine Rückführung wegen eines Härtefalls, zum Beispiel ein Krieg im Ursprungsland, ausgeschlossen ist.“ Der Fokus auf das Tempo hat einen entscheidenden Grund: „Das Kind soll sich im Entführungsland möglichst nicht eingliedern und im Umkehrschluss den Anschluss an das Ursprungsland verlieren“, erklärt Rinau. „Wenn der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt worden ist, kann dann in Ruhe über das Sorge- und Umgangsrecht verhandelt werden.“

Rückführung nach Kindesentziehung: Warum selbst eine effiziente Rechtsgrundlage nicht immer hilft

Eine effiziente Rechtsgrundlage zur Rückführung entführter Kinder gibt es somit. Allerdings können die rechtlichen Mittel kaum alle Hindernisse, denen verzweifelte Eltern entführter Kinder begegnen, ausmerzen. So gibt es weiterhin viele Staaten, in denen das HKÜ nicht gilt. Mütter oder Väter müssen sich dann auf eigene Faust durchschlagen – ohne Sprachkenntnisse und womöglich in einem Rechtssystem, in dem Rückführungen noch kaum etabliert sind. „Wenn man nicht das Geld für gute Anwälte und Dolmetscher hat oder einem schlicht die Kontakte fehlen, hat man kaum eine Chance“, sagt Rinau.

Schließlich ist auch die Mitgliedschaft eines Landes im HKÜ kein Garant für eine problemlose Rückführung. Zum einen „kann man keine Herausgabeanordnung vollstrecken, wenn man gar nicht weiß, wo das Kind ist“, sagt Rinau. Nicht selten brechen die entführenden Elternteile jeden Kontakt zum verbliebenen ab und verbarrikadieren sich in der Angst, gefunden zu werden. „Das ist natürlich auch für die Kinder traumatisch“, fügt die Familienrechtlerin hinzu.

Zum anderen „stößt man in vielen Ländern auf erheblichen Widerstand“. Die Anwältin berichtet von eigentlich beschlossenen Rückführungen, deren Vollstreckung ewig vereitelt wird. In anderen Fällen werde trotz eindeutiger Entführung doch eine Art Sorgerechtsverfahren im Ausland durchgeführt. Teilweise werde dann für den Fall der Rückführung eine Beeinträchtigung des Kindes festgestellt. „Der Elternteil hat dann zwar rechtlich alles in der Tasche“, sagt Rinau. „Aber es hapert einfach an der praktischen Umsetzung.“ Damit seien den verzweifelten Elternteilen die Hände gebunden.

„Egal in welcher Fallkonstellation, am Ende einer Kindesentziehung gibt es nur Verlierer"

Möglich ist, dass auch Christina Block vor dieser Hürde stand. So steht zumindest die Frage im Raum, ob sie die Rückführung ihrer Kinder nach dem HKÜ in Dänemark beantragte. Die rechtliche Möglichkeit dazu hätte sie gehabt: Bis 2021 lebten die Kinder bei ihr in Hamburg – dann kehrten sie von einem Urlaub bei ihrem Vater in Dänemark nicht zurück. Ob Block den Antrag auf Rückführung in Dänemark nicht stellte oder dieser von einem dänischen Gericht abgelehnt wurde, ist bisher nicht bekannt.

Nun wäre eine behördliche Rückführung im Fall der Geschwister Theodor und Klara mit Sicherheit weniger angsteinflößend gewesen. Dem Zehn- und der 13-Jährigen wäre zumindest das traumatische Erlebnis erspart geblieben, mitten in der Nacht in ein Auto gezerrt und von fremden Männern über die Landesgrenze verfrachtet zu werden. Allerdings seien auch jene Fälle, in denen die Behörden zur Vollstreckung der Herausgabe der Kinder bereit sind, nichts, was sich Eltern wünschen, wendet Familienrechtlerin Rinau ein. „Man braucht sich die Situation, in der Gerichtsvollzieher und Jugendamt vor der Tür stehen und ein schreiendes Kind aus den Armen eines Elternteils reißen, nur vorzustellen.“

Absolute Priorität habe daher immer der Versuch, die Person, die das Kind zurückhält, zur Kooperation zu bewegen. Eins müsse man aber auch sagen, bilanziert Rinau. „Egal in welcher Fallkonstellation, am Ende einer Kindesentziehung gibt es nur Verlierer.“ Wenn sich die Eltern nach der Trennung nicht zum Wohle der Kinder zusammenreißen und arrangieren, so die Familienrechtlerin, „ist das eine Katastrophe für alle Beteiligten“.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei n-tv.de.