Vier Menschen werden bei Demonstration verletztAfD-Mitglied fährt mit Auto in Menschenmenge - Prozess beginnt

Der Angeklagte Melvin S. beim heutigen Prozessauftakt in Kiel.
Der Angeklagte Melvin S. beim Prozessauftakt in Kiel.
RTL Nord, Der Angeklagte Melvin S. beim heutigen Prozessauftakt in Kiel., RTL Nord
von Antonia Giese, Julia Lübbersmeyer und Jessica Sander

Er soll sein Auto auf bis zu 35 km/h beschleunigt und ohne zu bremsen in die Menschengruppe gefahren sein: Das damalige AfD-Mitglied Melvin S. soll im Oktober 2020 vier Menschen bei einer Demonstration gegen rechte Gewalt verletzt haben – eine Frau davon schwer. Jetzt muss sich der 22-Jährige vor dem Landgericht Kiel verantworten.

Was ist passiert?

Knapp 100 Menschen demonstrierten zum Prozessstart vor dem Gerichtsgebäude in Henstedt-Ulzburg.
Knapp 100 Menschen demonstrierten zum Prozessstart vor dem Landgericht in Kiel.
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Am 17. Oktober findet eine AfD-Veranstaltung in Henstedt-Ulzburg (Schleswig-Holstein) statt. Ein Aktionsbüdnis ruft zur Gegendemonstration auf: Gegen Nazis und Anschläge rechter Gewalt. Rund 200 Personen nehmen teil - mit Transparenten, Trillerpfeifen und Trommeln. 80 Polizeibeamte begleiten diesen spontanen Aufzug auf der Straße. Als gegen 18.30 Uhr die AfD-Veranstaltung zu Ende geht, fährt auf einmal ein Pick-up auf die versammelten Menschen zu.

War es Absicht?

Am Steuer soll sich Melvin S. befunden haben. Es werden vier Personen verletzt, eine davon schwer. Die Polizei geht vorerst von einem Unfall aus. Der Angeklagte wird nach einer ersten Befragung wieder entlassen. Dann die Wende: Der Staatsschutz ermittelt. Handelt es sich doch um eine politisch motivierte Tat?

Ist er mit Absicht in die Menschenmenge gefahren und hat damit den möglichen Tod mehrerer Menschen in Kauf genommen? So sieht es jedenfalls die Staatsanwaltschaft. In der Anklageschrift heißt es, dass der Angeklagte gebeten worden sei, sich von der Veranstaltung zu entfernen. Daraufhin soll er sich in sein Auto gesetzt haben. „Er ist zunächst langsam angefahren und hat dann auf 25 bis 35 Kilometer pro Stunde beschleunigt und ist ungebremst in die Zeugen gefahren“, so die Staatsanwaltschaft Kiel.

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"Ich habe Panik bekommen, dann geschah alles wie im Tunnelblick"

Nervös knetet der Angeklagte im Gerichtssaal seine Hände. Der Anwalt von Melvin S. versichert, dass er Rede und Antwort stehen will. Über mehrere Stunden wird der 22-Jährige befragt, er antwortet langsam und leise: „Es ist bis zum heutigen Tage kein Tag vergangen, an dem das Geschehen des Vorfalls kein Thema war“, beteuert der Angeklagte.

Er und seine drei Freunde sollen bedroht worden, ein Freund sei von „den Linken“ verprügelt worden sein. Daraufhin flüchteten sie ins Auto. Er könne sich nur noch verschwommen an die Tat erinnern, die im vorgeworfen wird: „Ich habe Panik bekommen, dann geschah alles wie im Tunnelblick. Ich sah einen Menschen auf der Motorhaube, ich dachte die sei mir da raufgesprungen.“ Erst dann sei er aus seiner Trance aufgewacht und habe den Tumult um sich herum realisiert. Er verstehe die aufgebrachten Reaktionen der Umstehenden: „Niemand möchte ein Fahrzeug, was auf einen zufährt, das sie verletzt. Ich kann nur sagen, dass es mir leidtut“, sagt er mit Blick in Richtung Nebekläger: „Ich würde mir wünschen, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“

„Ich bin kein Nazi, kein Rassist und kein Antisemit“

Zum Tatzeitpunkt, im Oktober 2020, war Melvin S. noch AfD-Mitglied, danach trat er aus der Partei aus. Unsere Reporterin berichtet von vor Ort: „Er beteuert immer wieder, dass die Tat nicht politisch motiviert gewesen sei, er sei kein Rassist, kein Neonazi und kein Antisemit.“

Im Laufe des Prozesstages wird aber auch die Bekleidung von Melvin S. thematisiert, die er am 17. Oktober getragen hat: Er trug Springerstiefel und einen Schal mit amerikanischer Flagge und einem Totenkopf, in der Hand hatte er wohl eine „Reichsbrause“: Eine Limo mit klarer rechtsextermistischer Symbolik auf dem Etikett. Die hatte er sich, laut eigener Angabe, im Internet bestellt. Sein Freund trug einen Pullover der Marke „Lonsdale“, die sich in der rechten Szene großer Beliebtheit erfreut. Außerdem sollen die Freunde in einem WhatsApp-Chat mit dem Titel „Ortskontrollfahrt“ rechtsextreme Inhalte ausgetauscht haben.

Auf die Frage der Richterin warum Videos mit Wehrmachts-Uniformen auf seinem Handy gefunden wurden, wollte er nicht antworten.

Protestaktion vor Kieler Landgericht

Vor dem Landgericht Kiel hat das Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg eine Kundgebung organisiert. Man wolle den Prozess kritisch begleiten, heißt es in ihrem Aufruf.
Vor dem Landgericht Kiel hat das Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg eine Kundgebung organisiert. Man wolle den Prozess kritisch begleiten, heißt es in ihrem Aufruf.
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Vor dem Gericht demonstrieren knapp 100 Menschen. Sie gehören zum Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg. Man wolle den Prozess kritisch begleiten, solidarisch für die Betroffenen, heißt es in ihrem Aufruf: „Es war eben kein Verkehrsunfall, das ist auch kein Geschehen was einfach passiert ist, sondern es war ein Anschlag auf politische Gegnerinnen und Gegner und deshalb stehen wir heute hier“, sagt Karo vom Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg im Gespräch mit RTL.

Am Freitag, den 7. Juli wird der Prozess fortgesetzt. Vierzehn weitere Verhandlungstage sind geplant. Das Urteil soll vorraussichtlich im Oktober fallen.