Szenen in Kabul wie auf untergehender Titanic
Afghanistan: Das todbringende Versagen in Berlin

Vor zehn Tagen hieß es, die Taliban kämen erst in Monaten, wenn überhaupt, bis vor die Tore von Kabul. Von ein paar Tagen hieß es, mindestens Wochen würde es dauern. Doch in den letzten 48 Stunden ist klar geworden: Die Taliban sind schon da. Die afghanische Armee existiert nicht mehr, weil ihre Soldaten davon gelaufen sind, und der Staatspräsident scheint es ihnen gleich zu tun. In Kabul spielen sich Szenen wie auf der untergehenden Titanic ab.
Bundesregierung vertrödelt kostbare Zeit
Der überhastete Abzug der Amerikaner hat das Desaster vor Monaten ins Rollen, so viel scheint klar. Was der damalige Präsident Donald Trump mit den Taliban ausgehandelt hat, ist längst nichts mehr wert, war es vermutlich zu keinem Zeitpunkt. Aber das entschuldigt die vollendete Rat- und Tatenlosigkeit der Bundesregierung keineswegs.
Das Hin und Her zwischen mehreren Ministerien hat kostbare Zeit vertrödelt, viel zu spät kam ein Krisenstab zu Stande, und viel zu spät auch griff die Kanzlerin ein. Wozu aber gibt die ganze diplomatische und geheimdienstliche Expertise, wenn nicht, um früh vor solchen Katastrophen wenigstens zu warnen? Oder gibt es diese Expertise in der Bundesregierung in Wahrheit gar nicht?

Tausende afghanische Helfer und ihre Familien werden im Stich gelassen
Selbst wenn das deutsche Botschaftspersonal noch gerettet werden kann – Tausende von afghanischen Helfern und ihre Familien werden schändlich im Stich gelassen und gehen ihrem Schicksal entgegen. Es ist eine Mischung aus wichtigtuerischer Bürokratie und strategischer Blindheit, mit der die Bundesregierung ihre Notlage heraufbeschworen hat, und zwar mit Ansage, denn öffentliche Warnungen gab es genug, bis hinein in Bundestagsdebatten.
Dass die afghanische Führung auch nach 20 Jahren westlicher Hilfe das eigene Land weder befriedet hat noch es gegen die radikalislamistischen Steinzeit-Milizen verteidigen kann – das muss sie sich überwiegend selbst zuschreiben. Dafür trägt die westliche Allianz nur einen geringen Teil der Verantwortung. Ewig konnte keines dieser Länder seine Soldaten in Afghanistan stationiert lassen, auch Deutschland nicht. Der Preis dafür ist die politische Demütigung, dass fast auf den Tag genau 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September die Taliban wieder an der Macht sind: entschlossener und besser ausgerüstet denn je.

Berliner Versagen wird wohl Menschenleben kosten
Aber das Berliner Versagen dieser letzten Tage von Afghanistan wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Menschen das Leben kosten, die deutschen Soldaten, deutschen Entwicklungshelfern, deutschen Botschaftsmitarbeitern im Laufe der Zeit mehr als einmal das Leben gerettet haben. Es ist eine Tragödie und eine Schande. Außenpolitik ist selten ein Grund für einen Minister-Rücktritt, aber das deutsche Versagen beim Abzug aus Afghanistan könnte einer werden. (nik)