Wissen Sie, wie viel Geld Ihnen zusteht? RTL klärt auf
"Ein Schlag ins Gesicht!": Pflegende Tochter erfährt von 2.300 ungenutzten Euro bei der Pflegekasse

Maria Hengstebeck* kämpft seit zwei Jahren monatlich mit der Pflegekasse ihrer pflegebedürftigen Mutter. Sie hat das Gefühl: Es ist unnötig schwer für pflegende Angehörige, die Beiträge bei der Kasse zu beantragen. Jetzt will sie, dass andere aus ihren Erfahrungen lernen und erzählt RTL ihre Geschichte.
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Maria pflegt ihre Mutter für 3,89 Euro pro Stunde
Maria Hengstebeck pflegt seit zwei Jahren ihre Mutter, zunächst mit Pflegestufe zwei, mittlerweile mit Pflegestufe drei. In der Praxis heißt das: „Fünf Stunden am Tag waschen, bügeln, Grundpflege, Haushalt, Arztbesuche und alles, was so anfällt“, erklärt die 59-Jährige im Gespräch mit RTL. Laut Sozialgesetzbuch muss sie auch nachts bei Bedarf zur Verfügung stehen. Möglich ist das nur, weil sie selbst in Teilzeit und selbstständig arbeitet. Ihre Zeit kann sie sich also selbst einteilen. „Vollzeit wäre undenkbar“, so Hengstebeck.
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Als finanziellen Ausgleich für die geleistete Pflege bekommt sie von der Pflegekasse jeden Monat 545 Euro. Auf eine Stunde gerechnet sind das 3,89 Euro. „Wenn du pflegst wie ich und auf dieses Geld angewiesen wärst, würdest du in der Armut landen“, so die Mutter einer erwachsenen Tochter.
Die AOK zitiert auf Nachfrage von RTL eine Ausführung des Bundesgesundheitsministeriums (BGM): „Familie und Angehörige stehen in einem anderen Verhältnis zum Pflegebedürftigen, [durch] Familienbande und moralische Verpflichtung, Pflegegeld ist keine „Vergütung“ sondern Anerkennung.“ Maria Hengstebeck empfindet diese Aussage als Affront, sagt: „Das ist lächerlich, ein Schlag ins Gesicht.“
Doch die 545 Euro sind nicht die einzige Summe, die die Kasse aus den lebenslang gezahlten Beiträgen der pflegebedürftigen Seniorin zur Verfügung stellt. „Richtig erklärt hat mir das eine Freundin, die seit Jahren ihre demenzkranke Mutter pflegt“, erinnert sich Maria Hengstebeck. Zwar finden sich Informationen über Anträge und Leistungen im Netz, doch die bürokratischen Hürden, diese auch zu beantragen, seien zu hoch. „Niemand sagt dir, dass da Gelder verfallen oder schickt einen Kontostand über mögliche Leistungen.“
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Studie: 12 Milliarden Euro werden nicht abgehoben - woran liegt das?
Eine repräsentative Studie der VdK vom Mai 2022 zeigt, dass Maria Hengstebeck damit nicht allein ist. Die Daten zeigen, dass pflegenden Angehörigen jährlich mehr als 12 Milliarden Euro entgehen. Rund 3,3 Millionen Menschen leben mit Pflegegrad in ihrem eigenen Zuhause und werden dort von Angehörigen gepflegt.
Je nach Art der Pflegeleistung werden zwischen 62 und 93 Prozent der Leistungen gar nicht abgerufen. Die Studie legt nahe, dass viele nicht wissen, was ihnen zusteht und die Antragsverfahren zu kompliziert sind.
Sieben große deutsche Pflegekassen wurden für diese Recherche angefragt mit der Bitte, Stellung zu beziehen. Sechs von ihnen haben fristgerecht geantwortet und – so viel vorneweg – die Verantwortung von sich geschoben.
Die Ergo-Versicherung führt als einen Grund für die nicht beantragten Gelder auf: „Nicht alle Pflegebedürftigen nehmen das kostenlose Angebot einer Pflegeberatung in Anspruch, da sie sich gut informiert fühlen.“
Ein Beispiel: Jemand mit Pflegegrad drei, der hier unter anderem mit „pflegebedürftig“ gemeint ist, weist per Definition eine „schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ auf. Ist so jemand also in der Lage, ein Angebot zur Pflegeberatung in Anspruch zu nehmen?
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Ihre Erfahrung ist gefragt:
Entlastungsbetrag sammelt sich an: "Da musste ich mich erstmal hinsetzen"
Nach dem Gespräch mit ihrer Freundin ruft Maria Hengstebeck bei der Pflegekasse ihrer Mutter an, fragt, wie viel Geld auf dem Konto bereitliegt. „Da musste ich mich erst einmal hinsetzen“, erzählt sie. Denn es stellt sich heraus, dass sich über 2.300 Euro angesammelt hatten. 1.700 Euro unter anderem durch den sogenannten Entlastungsbetrag, der noch beantragt und ausgezahlt werden konnte. Geld, dass Betroffenen schon ab Pflegegrad eins zusteht. Die restlichen 600 Euro waren zu diesem Zeitpunkt leider schon verfallen.
Gedacht sind die 125 Euro im Monat als Entlastung für die pflegenden Angehörigen. Sie können also für ehrenamtliche Helfer oder eine Tagespflege genutzt werden. Kommt eine Nachbarin oder gute Freundin der Seniorin vorbei und hilft ihr beim Waschen, kann die Familie den monatlichen Entlastungsbetrag beantragen. „Das ist aber eine unheimliche Hürde“, sagt Hengstebeck. „Man muss erstmal so jemanden finden, der nah genug an der Familie steht, aber nicht verwandt ist.“
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Verhinderungspflege: Freunde bekommen mehr als die Familie
Ein weiterer Betrag, der pflegenden Angehörigen zusteht, ist die Verhinderungspflege. Bis zu vier Jahre rückwirkend kann das Geld beantragt werden, danach verfällt es unwiederbringlich. „Das ist das nächste Elend“, sagt Hengstebeck. Denn die Verhinderungspflege soll eine Entlastung sein. Doch die Höhe der Beiträge richtet sich danach, ob eine verwandte oder nur bekannte Person die Pflege übernimmt. Kümmern sich Freunde oder Nachbarn, stehen hier jährlich 1.612 Euro zur Verfügung. Kümmern sich Verwandte, ist der Satz um ein Vielfaches geringer.
Die Techniker Krankenkasse sieht hier ein Problem. „Wir fordern vom Gesetzgeber, dass die Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege zu einem Entlastungsbudget zusammengefasst werden“, schreibt die Pressesprecherin auf Anfrage von RTL. Und nennt auch einen Grund, warum so wenige Berechtigte dieses Geld beantragen: Die Regelungen zur Verhinderungspflege seien „derzeit schwer verständlich und umständlich handhabbar.“ Die BKK VBU räumt ein: „Ein vereinfachtes Pflegesystem könnte den Betroffenen einen besseren Zugang zu den Leistungen bieten.“
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Pflegehilfsmittel: Viele Angehörige zahlen das aus eigener Tasche
Monatlich stehen Pflegebedürftigen außerdem 40 Euro für Pflegehilfsmittel wie Desinfektionsmittel zu. Das zahlen viele Angehörige aus der eigenen Tasche. Dabei genügt ein Anruf bei der Pflegekasse, um sich über eine Vertragsapotheke in der Nähe zu informieren. „Das rechnet die Apotheke dann selbst mit der Kasse ab“, berichtet Maria Hengstebeck aus ihrer Erfahrung.
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Maria Hengstebecks Gefühl: Pflegekassen machen es kompliziert, obwohl es ein "Sparmodell" sei
Maria Hengstebeck ärgert sich über die vielen Hürden, vor allem aber über die deutlich niedrigeren Sätze für Verwandte. „Wenn meine Mutter mit Pflegegrad drei in ein Heim käme, wären die Beiträge für die Pflegekasse viel höher“, erklärt sie. „Die müssten also sehr daran interessiert sein, dass Angehörige zu Hause pflegen, weil das das Sparmodell ist.“
Die 59-Jährige klagt an: „Das Geld geht dann an einen Pflegedienst und nicht an die Kinder oder Enkelkinder, die sich um die Oma kümmern.“ Kritik, die auch die BKK VBU in ihrem Statement bestätigt: „Zweifellos benachteiligt diese Regel pflegende Angehörige. Denn sie stützen das Pflegesystem insgesamt.“
Fünf der sieben angefragten Pflegekassen verweisen auf die Probleme durch die Gesetzeslage. Die ERGO schreibt: „Es handelt sich um eine gesetzliche Vorgabe […], die auch wir als privates Versicherungsunternehmen im Bereich der Pflegepflichtversicherung einzuhalten haben.“ Raum für Verbesserung hätte hier also nur die Politik.
Auf Anfrage von RTL macht das Bundesgesundheitsministerium Betroffenen Hoffnung: „Im aktuellen Koalitionsvertrag ist vereinbart, Leistungen wie die Kurzzeit- und die Verhinderungspflege in einem transparenten und flexiblen Entlastungsbudget mit Nachweispflicht zusammenzufassen, um die häusliche Pflege zu stärken.“ Wie genau das aussehen wird und wann eine Reform des Gesetzes kommen soll, müsse noch „beraten und entschieden“ werden, so der Sprecher des BGMs.
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Mit diesen Tipps kommen Sie an Ihr Geld:
Fragen Sie regelmäßig nach, wie viel Geld auf den Konten des Pflegebedürftigen ist.
Haken Sie nach, wenn Sie lange keine Rückmeldung zu gestellten Anträgen bekommen.
Informieren Sie sich, was Ihnen zusteht. Alle Pflegekassen haben ausführliche Informationen zu den Geldern auf ihren Webseiten.
Wenn Sie bei den Pflegekassen nicht weiterkommen, hilft zum Beispiel die Verbraucherzentrale oder Initiativen wie pflege-durch-angehoerige.de
*Aus Angst vor Konsequenzen seitens der Pflegekasse haben wir den Namen auf eigenen Wunsch hin geändert.