Ein Leben zwischen zwei Welten
Weil sich die leiblichen Eltern sträuben: Daria B. kämpft 14 Jahre lang um ihre eigene Adoption

„Bitte setz dich, wir müssen dir etwas sagen. Du wurdest adoptiert!“ – so oder so ähnlich klingen Sätze in Filmen, die die Handlung und das Leben der Protagonisten gehörig auf den Kopf stellen. Wenn die Eltern ihrem Kind plötzlich mitteilen, dass sie gar nicht die leiblichen Eltern sind, sind Sinnkrise, Drama und Chaos meist vorprogrammiert. Doch was, wenn das im echten Leben sogar gewünscht ist und man unbedingt adoptiert werden will? 14 Jahre lang wartet die heute 16-jährige Daria B. aus der Nähe von Frankfurt darauf, endlich offiziell von ihrer Pflegefamilie adoptiert zu werden – bis es 2021 endlich so weit ist. Warum dieser längst überfällige Schritt jedoch so lange gedauert hat, das hat uns die Familie aus Hessen erzählt.
Endlich adoptiert! Daria lebt jahrelang als Pflegekind bei Familie B.

Laut „Destatis“ sind im Jahr 2021 in Deutschland 3.843 Kinder adoptiert worden. Daria B. ist eine davon. Für sie geht am 12. April 2021 ihr größter Wunsch in Erfüllung: Endlich wird offiziell gemacht, was für die heute 16-Jährige schon lange feststeht. Endlich darf sie sich als festes Familienmitglied der Familie B. sehen! Diese nimmt Daria im Alter von anderthalb Jahren als Pflegekind auf. Zuvor lebt das kleine Mädchen gemeinsam mit ihrer leiblichen Mutter in einem Mutter-Kind-Heim: „Ihre Mutter war damals 17 Jahre alt, ihr Vater sogar erst 16. Beide hatten Probleme mit Drogen. Wir haben Daria dann als Pflegekind aufgenommen – und das keine Sekunde bereut“, erzählt Adoptivmutter Sabine B. im RTL-Interview.
Dennoch: Friede, Freude, Eierkuchen ist beim Zusammenleben nicht immer gesetzt. „Die ersten Jahre waren wir nur bei Therapeuten, weil uns immer etwas Neues aufgefallen ist. Daria hatte einige Defizite“, erklärt sie. Daria selbst sagt, dass sie schon immer wusste, dass sie nicht bei ihren „richtigen“ Eltern lebt und Pflegekind ist. „Ich musste von kleinauf immer Kontakt zu meinen leiblichen Eltern halten. Es war immer klar, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte da zwei Eltern – und dann sind da irgendwie noch mal zwei.“ Bis sie richtig versteht, in welchem Zusammenhang das alles steht, vergeht viel Zeit. Aber: Je älter sie wird, desto präsenter wird das Gefühl, dass sie nicht so recht weiß, wo sie hin soll.
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Ein Leben zwischen zwei Welten - und die leiblichen Eltern stellen sich quer
Und dieses Gefühl soll zunächst anhalten, denn: Das Ehepaar B. hat bis dato nur ein erweitertes Erziehungsrecht; sie sind Pflegeeltern mit Hilfe zur Erziehung. Das Sorgerecht liegt noch immer bei den leiblichen Eltern. Und diese zeigen sich in vielerlei Hinsicht unzuverlässig und unkooperativ. „Als Kind mussten wir Daria immer darauf vorbereiten, dass gleich ihre leiblichen Eltern vor der Tür stehen. Dann gab es jedoch häufig Situationen, wo sie gar nicht erst auftauchten. Das war immer mit viel Enttäuschung verbunden. Auf der anderen Seite – wenn sie dann mal kamen – war das für Daria immer eine positive Erfahrung, weil viel gespielt wurde“, erzählt uns Darias Adoptivmutter, Sabine B.. „Man kann sich vorstellen, was das mit einem Kind macht. Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt war alles dabei. Wenn man das über Jahre hinweg mitmacht, dann kommt irgendwann der Punkt, wo man das nicht mehr will.“
Für Daria ist im Alter von 13 Jahren Schluss. Die Enttäuschung überwiegt der Freude. Treffen mit ihren leiblichen Eltern werden zu einem nervigen Punkt auf der To-Do-Liste, freiwillig würde der Teenager lieber etwas ganz anderes machen. Doch das geht nicht: Die leiblichen Eltern haben ein Recht darauf, ihre Tochter zu sehen. Sie sind es auch, die Familie B. nicht erlauben, Daria offiziell zu adoptieren. Und Daria muss den Kontakt halten – ob sie will oder nicht. „Am Anfang, als ich klein war, kamen sie mich alle vier Wochen besuchen. Irgendwann wurde daraus alle sechs Wochen und dann gab es irgendwann gar keine Regelmäßigkeit mehr. Das war scheiße“, erklärt die heute 16-Jährige. Das habe ihr sehr viel ausgemacht, so sagt sie.
Sabine B. erläutert: „Sie hatten einfach kein Gefühl dafür, was sie ihrem eigenen Kind damit antun, wenn sie so unregelmäßig zu Besuch kommen. Zudem haben sie es nicht als richtig empfunden, das Sorgerecht abzugeben und ihre Tochter somit offiziell zur Adoption freizugeben – obwohl das für sie das Richtige gewesen wäre.“ Und genau das ist das Problem: Wenn man so lange den Pflegekind-Status hat wie Daria, dann ist man nicht hier – aber auch nicht dort. Kein Wunder also, dass sie sich nirgendwo zugehörig fühlt.
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Wie hat sich Darias Dasein auf das Familienleben ausgewirkt?

Im Sommer 2019, als Daria 14 Jahre alt ist, hat sie endlich Mitspracherecht – und kann nun selbst den Antrag auf Adoption stellen. Nach einem schwierigen, zweijährigen Adoptionsverfahren werden endlich Nägel mit Köpfen gemacht. Die entscheidenden Unterschriften werden gesetzt und am Ende ist Daria endlich offiziell Teil der Familie. Allen fällt eine riesige Last von den Schultern.
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Das Zusammenleben der Familie beschreibt Sabine B. als „buntes Chaos“. Denn neben Daria ist sie noch Mutter zweier Mädchen, die fünf beziehungsweise zehn Jahre älter sind als Daria. „Selbst wenn wir schwierige Zeiten hatten, muss man sich einfach vor Augen führen, dass man nie genau weiß, was auf einen zukommt, wenn man sich dazu entscheidet, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen“, erklärt sie.
Heute würde sie nicht alles genauso machen wie damals: „Meine älteste Tochter war immer die große Schwester. Sie fiel oft hinten runter. Auch meine mittlere Tochter ist früh selbständig geworden, weil sie realisiert hat, dass Daria mehr Aufmerksamkeit braucht. Daria selbst würde ich nicht nochmal zu jeder Therapie schleppen, sondern mehr auf ihre Bedürfnisse eingehen.“
"Warum hätten wir Daria in schwierigen Zeiten wieder abgeben sollen? Das hätten wir mit unseren leiblichen Kindern ja auch nicht getan!"
Das sieht Daria übrigens selbst ganz genauso. Sie würde sich wünschen, dass mehr auf die betroffenen Kinder gehört wird: „Ich denke ab zehn Jahren sollte mehr hingehört werden, was das Kind eigentlich will.“ Sie selbst habe schon früh gewusst, was sie will – und was nicht. Aber niemand habe auf sie gehört - außer ihrer Adoptivmutter. „Aber ihr waren eben die Hände gebunden, sie konnte nichts machen, weil Pflegeeltern eben ‘nur’ die Hilfe zur Erziehung zusteht.“
Generell hofft sie, dass das Thema Adoption eines Tages weniger tabubehaftet sein sollte. „Ja, es ist nicht immer alles so rosig und ich glaube viele unterschätzen, was auf sie zu kommt. Aber es lohnt sich.“ Sabine B. stimmt zu: „Daria hat viel Gutes in unser Leben gebracht. Wir haben sie immer als vollwertiges Familienmitglied gesehen, sie war von Anfang an unsere Tochter – und nicht unser Pflegekind. Wir haben uns für sie entschieden. Und auch wenn es manchmal stressig war: Warum hätten wir Daria in schwierigen Zeiten wieder abgeben sollen? Das hätten wir mit unseren leiblichen Kindern ja auch nicht getan.“ Familie ist Familie – und das ist das, was zählt.