30 Jahre Rostock-Lichtenhagen
Thinh Nguyen Do rettete sich in Todesangst aufs Dach: "Dann hätte es bestimmt Tote gegeben"
Die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen gingen 1992 in die Geschichte des gerade vereinigten Deutschlands ein. Den Schatten der rechten Gewalt hat das Land bis heute nicht hinter sich gelassen. Bis heute steht „Rostock-Lichtenhagen“ für eine der schlimmsten rechtsextremistischen Attacken nach der deutschen Einheit. Die Stadt versucht, klarzukommen mit dem Teil ihrer Geschichte, den Kritiker als Staatsversagen brandmarken, gar als erstes Pogrom auf deutschem Boden seit 1945.
„Lichtenhagen gehört zur Stadtgeschichte Rostocks dazu“, sagt der amtierende Oberbürgermeister Steffen Bockhahn (Linke). Kulturstaatsministerin Claudia Roth macht im RTL-Interview die damalige Politik für die Ausschreitungen verantwortlich.
Steine werden geworfen, später auch Brandsätze, rassistische Parolen gebrüllt

Damals begann alles am 22. August, einem Samstag. Gegen 20 Uhr versammeln sich Hunderte Menschen vor einem Plattenbau mit Sonnenblumenmosaik, in dem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber untergebracht ist. Steine werden geworfen, später auch Brandsätze, rassistische Parolen gebrüllt. Das Ziel sind Menschen aus Osteuropa, die in der Hoffnung auf ein Asylverfahren vor dem Gebäude campieren. Und Vertragsarbeiter aus Vietnam, die im Wohnblock ein Zuhause haben. Schaulustige feuern die Gewalttäter an. Die Polizei scheint machtlos. Vier Tage lang.
130 Menschen retten sich damals in Todesangst auf das Dach des Sonnenblumenhauses, unten tobte der braune Mob. "Es war einfach diese Sorge, wenn wir entdeckt werden, kommen die bestimmt hoch auf's Dach und hier wollten wir die nun absolut nicht treffen," erzählt Thinh Nguyen Do im RTL-Interview, er war einer der Bewohner, der sich dort hin rettete. Er rechnete mit dem schlimmsten: "Nee, dann hätte es bestimmt Tote gegeben."
Lichtenhagen steht in der traurigen Reihe mit Hoyerswerda oder Mölln

Doch Lichtenhagen war damals kein Einzelfall. Es steht in einer traurigen Reihe mit Hoyerswerda, Hünxe, Mannheim, Mölln - Anschläge auf ausländische oder schlicht fremd aussehende Menschen in Deutschland. 1992 war nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung das Jahr mit den meisten bekannten rechtsextremistischen Morden: 28 Menschen sterben. Zu Jahresende stellen sich Hunderttausende mit Lichterketten gegen die Gewalt. Gestoppt ist der Rechtsextremismus damit nicht, bis heute nicht. Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge warnt sogar, dass Frust und Angst vor sozialem Abstieg in diesem Inflationsherbst rechte Demokratiefeinde nochmals stärken könnten.
Die Situation Anfang der 1990er Jahre war trotzdem sehr besonders, auch das ist klar. Der Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung, Timo Reinfrank, spricht von einer „nationalistischen Welle“ nach der deutschen Vereinigung, die in einer „Explosion der Gewalt“ mündete. Seine Institution ist benannt nach dem gebürtigen Angolaner Amadeu Antonio, der 1990 in Eberswalde zu Tode geprügelt wurde. Sie sieht ihre Aufgabe in der Stärkung der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Butterwegge, der damals intensiv zum Rechtsextremismus forschte, verweist auf den sozialen Umbruch im Osten, die Massenarbeitslosigkeit, das Gefühl des Ausgegrenztseins. Aber der Experte sieht auch zwei konkrete Anlässe für das aufgeheizte Klima: Die Entscheidung für Berlin als deutsche Hauptstadt 1991 – „das war das Signal für Neonazis, 'Wir sind wieder wer'“ - und die Debatte über das Asylrecht unter dem Schlagwort „Das Boot ist voll“.
„Es gab eine wirklich schlimme politische Debatte, in der versucht worden ist, die Schuld für Arbeitslosigkeit, fehlende Arbeitsplätze und Wohnungsmangel den Asylbewerbern zu geben“, so Claudia Roth zu RTL. „Da ist mit populistischen Mitteln, mit Stimmungsmache gearbeitet worden.“ Kurz nach Beginn der Ausschreitungen war Claudia Roth, damals Europaabgeordnete der Grünen, nach Rostock-Lichtenhagen gekommen. „Es gab auch einen unzulässigen Versuch, die Verantwortung in Richtung Ostdeutschland zu verlagern“, erinnert sie sich im Interview mit RTL. „So nach dem Motto, das ist typisch Ostdeutschland, ehemalige DDR.“ Es sei damals gerade von westdeutscher Seite gezielt versucht worden, die Verantwortung für das Pogrom auf die Ostdeutschen und ihre Sozialisierung abzuwälzen.
„Es wurde damals versucht den Anschein zu erwecken, dass Rassismus und rassistische Gewalt in einem alten Westdeutschland ja gar keinen Platz hatten, was natürlich nicht stimmt.“ Dies hätten die Anschläge in Mölln und Solingen gezeigt, wo auch Menschen ums Leben gekommen sind.
„Massive Unterstützung der Bevölkerung“
Tatsächlich mobilisierte die Neonazi-Szene in West und Ost für die Randale in Lichtenhagen, wie Stiftungs-Geschäftsführer Reinfrank bestätigt. Auch er sagt: „Man muss sehen, dass eine unhaltbare Situation vor Ort geschaffen wurde durch die Landespolitik.“ Deshalb wählt er die umstrittene Bezeichnung Pogrom - der Staat trug aus seiner Sicht eine Mitschuld.
Doch sagt Reinfrank auch: „Die Nazis haben sich nicht vorstellen können, dass es dann so eine massive Unterstützung der Bevölkerung gab.“ (eku mit dpa)
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