143 Tage zusammen mit Schwerverbrechern
Christine S. (49) wurde von ihrem Vater missbraucht – am Ende landet SIE im Gefängnis

Diese Geschichte lässt fassungslos zurück.
Christine S. aus Dortmund wurde als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht. Obwohl sie das Opfer ist, landet die heute 49-Jährige im Gefängnis. Der Grund: Ihr Vater behauptet nach einem Streit, dass sie ihn umbringen wollte und lässt sie von der Polizei festnehmen.
Christine verdrängt Missbrauch jahrelang
„Jetzt habe ich bewiesen bekommen, was für ein Mensch er ist, er hat mich missbraucht, getäuscht, verraten”, sagt die 49-Jährige im Gespräch mit RTL. Vor ein paar Jahren war an solche Worte noch nicht zu denken.
Eigentlich hatten die erwachsene Christine und ihr Vater immer ein gutes Verhältnis. Doch zu fremden Menschen kann die Frau kaum Vertrauen aufbauen, durchlebt immer wieder depressive Phasen. 2019 findet sie heraus, wieso. Plötzlich laufen schreckliche Bilder vor ihrem inneren Auge ab. Bilder, die den sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater in ihrer Kindheit zeigen. Das Landgericht Zwickau bestätigt in einer Pressemitteilung, dass Christine S. von ihrem Vater „ab einem Alter von vier oder fünf Jahren bis zum 12. oder 13. Lebensjahr massiv sexuell missbraucht” wurde.
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2020 zeigt Christine ihren Vater an. Doch weil der Fall bereits verjährt ist, läuft die Anzeige ins Leere. Je nach Schwere der Tat verjährt Kindesmissbrauch nach zehn oder nach 20 Jahren. Trotz der grauenvollen Erkenntnis schafft sie es nie vollständig, den Kontakt abzubrechen. „Ich wollte wissen, warum. Und ich wollte, dass er Reue zeigt”, sagt Christine. Also fährt sie am 23. Juli 2023 wieder nach Plauen (Sachsen), zum Haus ihres Vaters.
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Der Tag der Verhaftung
Der Vater habe Christine seit Monaten versprochen, ihr ein altes Schmuckstück ihrer Großmutter zu schenken – als eine Art Entschädigung für den Missbrauch in ihrer Kindheit. Das Treffen eskaliert im Streit. „In dem Moment wusste ich, dass ich jetzt nicht gehen kann. Ich konnte da nicht raus, ohne ein Ende oder eine Lösung“, erinnert sich die 49-Jährige zurück. Der Vater sei so aufbrausend, dass Christine die Fassung verliert. Sie nimmt ihren Schal ab, presst ihn an den Hals ihres Vaters und fixiert den Mann an der Wand.
Einer der beiden erwachsenen Söhne ihres Vaters platzt herein und ist schockiert über das Verhalten seiner Halbschwester. Er ruft sofort die Polizei. „Ich konnte ja jetzt nicht einfach fahren. Also habe ich mich zu meinem Halbbruder vor das Haus gesetzt und gewartet”, erzählt sie weiter. Als die Beamten eintreffen, behaupten die beiden Männer, Christine wollte ihren Vater umbringen! Sie wird festgenommen.
143 Tage in U-Haft
Die nächsten Wochen verbringt Christine im Frauengefängnis Chemnitz – gemeinsam mit schwerkriminellen, drogenabhängigen und psychisch kranken Menschen.
„Es war eine ganz andere Welt, mit ganz anderen Regeln. Dass jemand anderes, also die Beamten, über dich bestimmen, ist ganz komisch”, berichtet Christine im Gespräch mit RTL.

Exakt 143 Tage lebt sie im Gefängnis – jeder davon kommt ihr vor wie eine Ewigkeit. „Ich hatte eine Stunde Hofgang pro Tag. Die Uhrzeit konnten wir uns aber nicht aussuchen. Die Zeit, in der man den Haftraum verlassen kann, ist extrem kostbar.“ Weil man maximal sechs Monate in Untersuchungshaft sitzen darf, geht Christine im Dezember 2023 zurück zu ihrer Familie.
Angeklagt wegen versuchter Tötung
Im Januar dieses Jahres kommt es zum Prozess vor der Schwurgerichtskammer des Zwickauer Landgerichts. Doch die Anklage gegen Christine wegen versuchter Tötung wird ziemlich schnell fallen gelassen. Das Gericht geht nicht davon aus, dass die 49-Jährige ihren Vater umbringen wollte. „Aufgrund der Angaben der beiden rechtsmedizinischen Gutachter steht fest, dass sie nicht stark genug am Schal zog, um ihren Vater zu verletzen oder gar zu töten”, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts.
Christine wird außerdem wegen ihrer Missbrauchserfahrungen als vermindert schuldfähig eingestuft. Sie leide an einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung”, die durch die Taten ihres Vaters in ihrer Kindheit ausgelöst wurde, stellt das Gericht fest. Dennoch wird die 49-Jährige verurteilt – wegen Freiheitsberaubung und versuchter Nötigung. Sie muss 1.000 Euro Strafe zahlen. Ihr Vater erscheint nicht vor Gericht.
„Das hat mir gezeigt, dass mich nichts mehr mit meinem Vater verbindet”, sagt Christine.
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Im ersten Moment klingt das Urteil ziemlich ernüchternd. Doch für die 49-Jährige ist es das keinesfalls: „Ich kann jetzt endlich mein eigenes Leben leben und für meine Familie da sein. Die Vergangenheit zieht mich nicht mehr runter.” Durch das Gerichtsurteil habe sie Selbstachtung und Würde wiedererlangt.
An machen Tagen belaste sie die Geschichte mit ihrem Vater noch immer. Dann hilft ein Sparziergang in der Natur oder eine Umarmung ihres Mannes, erzählt Christine.