„War ich wirklich nicht laut genug?”

Anahit (26) erlebte Gewalt in der Beziehung – wie sie den Absprung schaffte

von Carmen Gocht, Lynn Michel und Dylan Brandes

„Diese Angst: Kein Geld, keine Ausbildung, kein Studium, keine Wohnung, nichts.”
Weltweit finden am 14. Februar Flashmobs und Aktionen der Kampagne „One Billion Rising” statt – eine Initiative gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Eine junge Frau, die dies in ihrer Beziehung erfahren hat, ist Anahit M. aus Niedersachsen. Mittlerweile hat die 26-Jährige ihren Ex-Freund wegen Vergewaltigung angezeigt. Doch jahrelang schaffte die Mutter eines kleinen Sohnes den Absprung nicht. Nun spricht sie über ihre schlimmen Erfahrungen.

Vergewaltigt, nachdem sie sich trennen will

Wenn Anahit ein Bild ihres Ex-Partners anschaut, kann sie nicht genau sagen, was sie fühlt. Es sind die Auswirkungen ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung. Unabhängig von der Emotion, fühle sie sich dann wie taub. „Egal, welche Gefühle, Liebe, Freude, erst recht nicht Trauer oder Wut oder andere unangenehme Gefühle”, erklärt die junge Frau im Gespräch mit RTL. Sie beschreibt ihr Gefühl wie einen „Dämpfer”, der über allem liegt. „Und so habe ich mich halt durch Tage, Wochen und Monate und Jahre geschlängelt. Und ich glaube, das hat auch einfach einen riesengroßen Beitrag dazu geleistet, warum ich einfach nicht handlungsfähig war und mich, oder uns, vorher da rausgeholt habe. Ich konnte einfach nicht.”

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Anahit und ihr Ex lernen sich 2019 während des Studiums kennen. Sie ist gerade 20, er fünf Jahre älter. „Da war eigentlich noch alles okay. Er war irgendwie abenteuerlustig und ganz interessant, fand ich.” Aber nach drei Monaten will sich Anahit von ihm trennen. Dann vergewaltigt sie ihr damaliger Partner, sagt die 26-Jährige. Was genau passiert ist, können wir nicht nachprüfen. „Das ist auch die Tat, die mich auch am meisten mitnimmt, weil diese Schmerzen einfach so viel waren. Ich habe mich richtig gewehrt. Ich habe nein gesagt, ihn weggedrückt, gekratzt und alles Mögliche. Und er meinte, ich wäre ja nicht laut genug gewesen. Er hat es gar nicht mitbekommen.” Er habe sie gar nicht richtig verstanden, behauptet ihr Ex-Partner. „Und ich habe in dem Moment gar nicht verstanden: ‘Was soll ich jetzt glauben und was nicht? War ich wirklich nicht laut genug?’”

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Nur Wochen später ist Anahit schwanger

Anahit trennt sich nicht. Aus heutiger Sicht kann sie das selbst schwer nachvollziehen. „Eigentlich hätte ich meine Tasche packen und wegrennen sollen, aber ich war total verwirrt”, so die 26-Jährige. Nur vier Wochen später ist Anahit dann schwanger – es ist einvernehmlich dazu gekommen, sagt sie. Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch kein Kind möchte. Trotzdem entscheidet sie sich bewusst dafür, ihren Sohn zu bekommen. Er wird im Jahr 2020 geboren.

Anahit entscheidet sich, ihr Kind zu bekommen
Anahit entscheidet sich, ihr Kind zu bekommen
Privat

„Ich habe ganz genau überlegt: ‘Bin ich bereit, für dieses Kind alles zu tun, egal was? 100 Prozent und mehr?’ Und ich habe ‘ja’ gedacht und dazu stehe ich immer noch”, erklärt die junge Frau. „Er ist so ein super süßer, toller Junge und er hätte so viel mehr verdient als das, was er in seinen ersten Jährchen gesehen hat.” Anahit erzählt, dass sie nach der Geburt des Kindes noch drei Mal vergewaltigt wurde. Aber sie bleibt bei ihrem Partner.

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„Das war nicht normal, was da geschehen ist”

„Diese Angst: Kein Geld, keine Ausbildung, kein Studium, keine Wohnung, nichts”, beschreibt Anahit ihre damalige Situation. „Und irgendwie dachte ich dann auch: ‘Wir sind eine Familie. Eigentlich hält man zusammen.’” Den Absprung schafft sie Ende 2023, als sie nach einem schweren Autounfall in ärztlicher Behandlung ist. „Und irgendwann kamen Flashbacks und dann habe ich begriffen: ‘Ey, das war nicht normal, was da geschehen ist.’” Sie kommt zunächst mit ihrem Sohn bei ihren Eltern unter. Aber dann das nächste Problem: Die junge Frau hat kein Geld und muss einen Anwalt für Familienrecht bezahlen. Der Verein „Lila Hilfe” aus Hannover ist ihre Rettung. Ihre beste Freundin schreibt dem Verein im Namen Anahits eine E-Mail. „Dann habe ich den Antrag ausgefüllt und der war Gott sei Dank sehr, sehr unbürokratisch. Das heißt, auch ich, in meinem Zustand, konnte ihn ausfüllen.”

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Seit 2023 kümmert sich der Verein um Frauen, die Gewalt erfahren haben. 100 Betroffenen konnten sie so schon helfen – etwa mit finanzieller Unterstützung oder der Vermittlung an Beratungsstellen und Anwältinnen. Mittlerweile bekommt der Verein täglich Anfragen von Frauen, die um Hilfe bitten. Für seine Arbeit ist der Verein deshalb dringend auf neue Mitglieder und Spenden angewiesen – und hofft, dass sich auch politisch etwas tut. „Vergewaltigung wird im Strafgesetzbuch als Vergehen eingestuft, nicht als Verbrechen. Das bedeutet, es gibt weniger Methoden, da zu ermitteln. Also einfach weniger Handhabe, um das Vergehen aufzuklären. Und es bedeutet auch, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgrund von fehlendem öffentlichen Interesse einstellen darf”, erklärt Elise Gartemann vom Verein „Lila Hilfe”. Für Anahit war das Angebot des Vereins, genau das, was sie zu dem Zeitpunkt gebraucht hat.

Ihr Sohn (4) gibt Anahit viel Kraft

Heute geht es der jungen Frau besser
Heute geht es Anahit besser
RTL

Nach einer sehr schweren Zeit geht es Anahit heute besser: „Ich habe nämlich gemerkt: Was mich am meisten belastet hat, war das Alleinsein. Zu denken, dass ich alleine mit allem bin. Dabei muss ich das gar nicht sein.” Heute geht es ihr besser, sie ist in psychologischer Behandlung. Und auch ihr vierjähriger Sohn gibt ihr Kraft. „Ich habe das Gefühl, er erdet mich. Egal, was ist, egal wie gut oder wie schlecht eine Situation ist. Ich komme nach Hause und da ist mein Kind. Und ich kann mit Worten gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, jeden Morgen und Abend das Glück zu haben, mit ihm aufzustehen und ins Bett zu gehen.” Ihren Ex-Partner hat Anahit mittlerweile wegen Vergewaltigung angezeigt. Ob und wann es einen Prozess geben wird, weiß sie noch nicht.

Für den angezeigten Ex-Freund gilt bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung.