Jetzt zieht die Familie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
„Wir kämpfen weiter!“ - Krankenkasse zahlt nicht für Medikament von todkrankem Matteo (3)

5.000 Euro pro Monat kostet Matteos Medikament – doch die Krankenkasse muss nichts zahlen!
Es ist ein Urteil, das viele fassungslos macht. In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht in einem Eilverfahren entschieden, dass die AOK Niedersachsen nicht für das Medikament von Matteo Wilker zahlen muss. Die Begründung des Gerichts: Die Wirksamkeit des Mittels, das im „Off Label Use“ bei Matteo verwendet wird, sei nicht geklärt. Im RTL-Interview zeigt sich Matteos Mama Jasmin (41) fassungslos. Doch für sie steht fest: Sie kämpft weiter. Für ihren Sohn – und für andere Betroffene.
Matteo Wilker (3) leidet an der seltenen Krankheit Tay-Sachs
Matteo ist zwei Jahre alt, als seine Eltern die niederschmetternde Diagnose bekommen: Ihr Sohn leidet an der seltenen Krankheit Tay-Sachs. Dabei handelt es sich um eine degenerative neurologische Erkrankung, aufgrund derer mit der Zeit immer mehr Nervenzellen der Patienten absterben. Eine Heilung gibt es nicht, die Lebenserwartung liegt bei drei bis vier Jahren.
Matteo ist mittlerweile drei Jahre alt. Er kann weder laufen noch sprechen und nur schlecht sehen. Doch er kann seine Gefühle ausdrücken, etwa durch Lachen, er kann selbst schlucken und atmen. Dass es ihm noch so gut geht, liegt seinen Eltern zufolge daran, dass er ein Medikament mit dem Wirkstoff Miglustat bekommt. Doch ginge es nach der Krankenkasse der Familie aus dem niedersächsischen Hunteburg, hätte Matteo dieses Medikament nie erhalten.
Lese-Tipp: Krankheit zu selten für Medikamente: Henni (12) leidet an einer unsichtbaren Behinderung
Gerichtsurteil: Krankenkasse muss nicht für Matteos Medikament zahlen
Die AOK Niedersachsen, bei der Familie Wilker ist, will für das Medikament nämlich nicht zahlen. Die Kosten von 5.000 Euro pro Monat liegen somit aktuell bei den Eltern. Da diese finanzielle Belastung kaum zu tragen ist, zogen die Wilkers vor Gericht. Zuerst vor das Sozialgericht Osnabrück, das den Eltern recht gibt. Doch dann geht es auf Drängen der AOK vor das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen und schließlich im Eilverfahren vor das Bundesverfassungsgericht.
Dort gibt es in der vergangenen Woche die bittere Nachricht für die Familie: Die AOK Niedersachsen muss das Medikament nicht zahlen. „Ich hätte nie gedacht, dass es so ausgeht. Ich bin felsenfest davon ausgegangen, dass für unsere Sache entschieden wird. Es geht ja um das Leben eines dreijährigen Kindes! Mit dieser Entscheidung jetzt fühlen wir uns total hilflos“, sagt Jasmin Wilker im Gespräch mit RTL.
Tatsächlich gibt es sogar andere Krankenkassen, die Medikamente mit dem Wirkstoff Miglustat für Kinder, die an Tay-Sachs erkrankt sind, zahlen. Wilker: „Es gibt Kinder in unserer Selbsthilfegruppe, die das Medikament seit Jahren bekommen. Es erschüttert mich, dass es eine solche Ungleichbehandlung bei schwerkranken Kindern gibt.“
Matteo bekommt ein „Off Label Use“-Medikament
Der Grund für die Entscheidung des Gerichts: Matteo bekommt ein „Off Label Use“-Medikament. Das heißt, das Medikament ist für die Behandlung von Tay-Sachs eigentlich nicht zugelassen. Die Begründung des Karlsruher Gerichts: Es fehle „eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“.
Konkret: Es gibt keine wissenschaftliche Datenlage zu den Erfolgsaussichten der Therapie mit Miglustat. Es fehlt eine belastbare Studie. Dass das Medikament sowohl Matteo als auch vielen anderen Erkrankten hilft und den Verlauf der Krankheit in vielen Fällen nachweislich verbessert, spielt weder für die AOK Niedersachsen noch vor Gericht eine Rolle.
„Es gibt viele Kinder, die Miglustat seit Jahren nehmen und bei denen eine deutliche Verbesserung der Krankheitssymptome dokumentiert ist. Es hemmt bei Kindern, die das Medikament gut vertragen, den Verlauf der Krankheit“, erklärt Jasmin Wilker. Im Umkehrschluss heißt das: Ein Absetzen des Medikaments würde zu einem deutlichen Voranschreiten der Krankheit führen.
Lese-Tipp: Eltern lassen unerforschten Wirkstoff an todkranker Tochter (8) testen - und der wirkt sogar!
So viel besser geht es Matteo mit dem Medikament
Deshalb steht für Jasmin Wilker fest, dass ihr Sohn weiter das Medikament erhält – auch wenn ihre Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen wird. Denn die Verbesserungen, die das Miglustat erwirken, sind laut der Familie deutlich sichtbar.
„Bevor er das Medikament bekam, wurde er immer teilnahmsloser. Und relativ schnell nach der ersten Einnahme konnte er uns wieder richtig anschauen. Seine Augen wurden immer besser. Er ist generell viel wacher, verfolgt, was um ihn herum passiert und hat auch wieder mehr Körperspannung“, erzählt Wilker. Jetzt kann sich ihr Sohn wieder strecken, seinen Kopf gerade halten und dadurch auch besser essen.
Matteo geht es mittlerweile sogar so gut, dass er den Kindergarten besuchen kann. Das wäre früher undenkbar gewesen. „Wir sehen Woche für Woche, wie es Matteo besser geht. Das Medikament abzusetzen, ist undenkbar. Es würde bedeuten, dass ich ihn auf Raten sterben lasse.“
Im Video: Diagnose Kinderdemenz!
Spendenkampagne finanziert jetzt Matteos Medikament
Um die Medikamente weiterhin zu finanzieren, hat Familie Wilker einen Spendenaufruf auf betterplace.org gestartet. Hier melden sich Hunderte Menschen, die fassungslos über das Gerichtsurteil sind: Privatpersonen – Mütter, Väter, Großeltern – aber auch Vereine und Organisationen. Ein Kindergarten aus dem 4.000-Seelen-Dorf Hunteburg sammelt beim Pfarrfest Spenden, die an Matteo gehen. Mittlerweile sind unter „Off Label Use Medikament für Matteo“ insgesamt fast 60.000 Euro eingegangen.
Das Geld sollte für Medikamente für knapp ein Jahr reichen, denn eine Packung kostet circa 7.000 bis 8.000 Euro und reicht für etwa 42 Tage. Es wäre ein Jahr, in dem Matteo die bestmögliche Lebensqualität bekommen würde.
„Er hat nur dieses eine Leben, und das soll er so lange und so schön verbringen, wie es nur möglich ist“, sagt Jasmin Wilker.
„Es geht mir nicht nur um uns" - Familie Wilker zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Derzeit läuft noch ein Hauptsacheverfahren zu der Frage, ob die Krankenkasse in diesem Fall das „Off Label Use“-Medikament zahlen müsste. Ob Matteo eine endgültige Entscheidung des Gerichts miterleben wird, ist unklar. „Ich bin sehr müde“, sag Jasmin Wilker, die mittlerweile auch Mutter einer zwei Monate alten Tochter ist. Dennoch kämpft sie weiter – nicht nur für ihren Sohn.
„Wir versuchen alles. Es geht mir dabei nicht nur um uns. Mein Sohn hat zwar Priorität, aber ich denke auch an andere Betroffene. Es werden auch zukünftig Kinder mit Tay-Sachs diagnostiziert werden und Eltern geben, die auf dieses Medikament angewiesen sind“, sagt Wilker. Deshalb geht die Familie jetzt, nach Absprache mit ihrem Rechtsanwalt, den nächsten Schritt.
„Wir haben uns entschieden, noch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzureichen“, erzählt Wilker RTL. Den Antrag wird die Familie in den kommenden Monaten sorgfältig vorbereiten. Fest steht: „Wir kämpfen weiter!“