Baby stirbt bei Hausgeburt
Mutter erhebt schwere Vorwürfe gegen Hebamme - bis heute leiden beide Frauen
von Lisa Marie Siewert
Acht Jahre liegen zwischen dem Tod eines Babys während einer Hausgeburt in Siedenburg (Landkreis Diepholz) und dem Prozess, der klären soll, ob die betreuende Hebamme daran Schuld trägt. Am zweiten Verhandlungstag gehen die Schilderungen der Mutter und der Angeklagten teilweise völlig auseinander. Das, was an diesem Tag in Saal 104 des Verdener Landgerichts ausgesprochen wird, sorgt mehr als einmal unter den Zuhörerinnen und Zuhörern im Saal für stummes Entsetzen darüber, wie der eigentlich wundervollste und oft schönste Moment, den Menschen erleben dürfen, zu einem Albtraum wurde.
Mutter und Hebamme stehen sich acht Jahre nach Hausgeburt vor Gericht gegenüber
Der Anruf, dass die Geburt beginnt, erhält die Hebamme am 9. Januar 2015. Am 13.Januar 2015 wird das kleine Mädchen tot in einem Krankenhaus geboren. Dazwischen liegen dramatische Stunden, die Mutter und Hebamme beide als nicht richtig, als nicht „normal“ wahrnehmen. Und trotzdem ruft niemand den Krankenwagen oder fährt in ein Krankenhaus. Die angeklagte Hebamme Sabine D. sagt im Prozess: Weil die Mutter auf keinen Fall in ein Krankenhaus wollte. Die Mutter hingegen habe der Hebamme vertraut, diese habe ihr zu keinem Zeitpunkt gesagt, dass man die Hausgeburt abbrechen müsse. Über das tote Mädchen wird im Landgericht im Übrigen erst fast acht Jahre später gesprochen, weil andere Prozesse Vorrang hatten.
Hebamme Sabine D. half bei mehr als 700 Geburten
Auf der Anklagebank sitzt Sabine D., inzwischen 60 Jahre alt. Unscheinbar, graue, kurze Haare, Brille, lackierte Fingernägel, Ehering. Sie ist die Hebamme, die im Januar 2015 bei der Hausgeburt die Familie begleiten soll. Seit Jahrzehnten praktiziert sie in der Geburtenhilfe: In Kliniken, Geburtshäusern, selbstständig und freiberuflich. Laut eigenen Angaben hat sie in ihrer beruflichen Laufbahn bis 2017 Frauen bei mehr als 700 Geburten unterstützt. 150 davon als Hausgeburt oder in einem Geburtshaus. Während der Befragung durch den Richter wirkt sie zunächst gefasst und sortiert, spricht langsam und unaufgeregt. Dabei plädiert die Staatsanwaltschaft auf Körperverletzung mit Todesfolge. Das könnte bis zu 15 Jahre Haft bedeuten. Frau D. will an diesem Tag eine umfassende Aussage machen.
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Hebamme gibt zu: Hausgeburt war ein Fehler
Zu Beginn sagt sie: „Es war nicht der Kontakt, wie ich ihn sonst zu Schwangeren hatte.“ Dem Wunsch der Schwangeren Frau B. nach einer Hausgeburt nachzukommen, sei im Nachhinein ein Fehler gewesen. Genauso, wie auf bestimmte Untersuchungen, wie etwa eine Blutabnahme zu verzichten: „Das sitzt mir bis heute noch in den Knochen. Ich habe zu viel übersehen.“ Sie habe die werdenden Eltern mithilfe eines Fragebogens über die Risiken aufgeklärt. Den hätte sie eigentlich unterschrieben zurückerhalten sollen, was nicht geschehen sei. Bei der Schwangeren sieht sie damals keine gravierenden Risikofaktoren. Die Vorgeschichte der Frau hätte aber auch zu einer anderen Auslegung führen können. Diese gesundheitlichen Faktoren sprechen für Sabine D. dennoch nicht gegen eine Hausgeburt. Sie selbst habe eine Weiterbildung zur „Traditionellen Hebamme“. Bei der Arbeit im Krankenhaus habe sie die Geburtsbegleitung von Frauen oft als übergriffig empfunden. Bei der „Traditionellen Hebammenkunst“, wie sie es nennt, sollen die Frauen selbstbestimmter gebären. Wissen aus dem „17. und 18. Jahrhundert“, so schildert sie, fließe mit ein.
Mutter schien bei Geburt abweisend
Im Laufe der Aussage bricht ihre Stimme dann doch zwischendurch. Sie betont mehrfach, ihr tue es leid, was geschehen sei. Sie könne es selbst nicht erklären. Aber sie sagt auch, dass die Mutter sich während der über dreißig Stunden dauernden Geburt „eingeigelt“ hätte, sie nicht an sie herangekommen sei und die Mutter abweisend war: Diese hätte auf gar keinen Fall in ein Krankenhaus gewollt. Die ehemalige Hebamme, die inzwischen nicht mehr praktizieren darf und als Fahrerin einer Pflegeeinrichtung arbeitet, beschreibt anhand eines Geburtsprotokolls, welche Untersuchungen sie zu welchem Zeitpunkt durchführte.
Hebamme führt bestimmte Untersuchungen nicht durch
Besonders interessant für das Gericht ist jedoch das, was die Hebamme unterlassen hat: Sie nimmt der Gebärenden kein Blut ab, was ab einem bestimmten Zeitpunkt wichtig gewesen wäre. Eine auffällige Verfärbung des Fruchtwassers scheint sie nicht als Alarmzeichen wahrzunehmen. Sie verschwindet zwischendurch für mehrere Stunden in ihre eigene Wohnung. Als die Patientin Panikattacken und starke Schmerzen hat, verabreicht sie ihr ein homöopathisches Mittel. Aber sie schildert auch, wie schwierig die Betreuung gewesen sei: Die Mutter hätte sie abgewiesen, der Austausch hätte hauptsächlich über die anwesende Großmutter und den Kindsvater stattgefunden. „Wenn der Kontakt zwischen Hebamme und Patientin nicht stimmt, dann hätte man abbrechen sollen.“ Doch das tat Frau D. nicht. Und als sie es tat, war es zu spät.
Mutter vor Gericht: "Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen"
Schon vor ihrer Vernehmung steht Frau B. im Flur, gemeinsam mit ihrem Anwalt und Ehemann, sie wirkt aufgelöst, bricht zwischendurch in Tränen aus. Umso überraschender ist dann ihre feste, fordernde Stimme bei ihrer Aussage: Fast forsch und schnell berichtet sie davon, wie sie die Schicksalstage im Januar erlebt hat. Im Laufe der Vernehmung wird klar: Es ist eine Fassade. Denn wenn B. über ihre tote Tochter spricht, ist der Schmerz in Tränen und Stimme fast greifbar. Zwischendurch wirft sie ihrer ehemaligen Hebamme wütende Blicke zu. Die starrt ins Leere, vermeidet den Blickkontakt.
Mutter hatte sich eine Hausgeburt gewünscht
Frau B. berichtet davon, dass sie sich nach vier eingeleiteten Geburten im Krankenhaus eine angenehmere Geburtserfahrung gewünscht habe. Sie und ihr heutiger Ehemann wollten erst keine Kinder und hätten sich dann spontan doch dafür entscheiden. Als sie schwanger wird, ist der Geburtstermin für ihren 40. Geburtstag terminiert. Alles scheint perfekt, ein Wunschkind. Bei ihrer Gynäkologin entdeckt sie einen Flyer zum Thema Hausgeburt: „Das könnte was sein“ ist ihr Gedanke damals, erzählt sie. Der Gedanke blieb und gefiel, ihr Partner nahm Kontakt zu Frau D. auf, man traf sich. Ihre Schilderung widerspricht nun teilweise gravierend den Ausführungen der Hebamme: „Sie hätte auch Staubsaugerverkäuferin werden können“, so Frau B. über die Gespräche mit der Hebamme. Einer Hausgeburt würde nichts im Wege stehen: „Mit euch kann ich mir das vorstellen“ soll sie den werdenden Eltern gesagt haben. „Sie rannte mit dem, was sie sagte, bei uns offene Türen ein.“ Schließlich habe Frau D. selbst im Krankenhaus gearbeitet und kenne die „Fließband-Abfertigung“. Zu viele Kaiserschnitte, zu viele Einleitungen, alles zu schnell und nicht natürlich.
Wurde die Mutter unzureichend aufgeklärt?
Frau B. betont auf mehrfache Nachfrage des Gerichts, dass eine Aufklärung von der Hebamme über die Risiken der Hausgeburt nicht stattgefunden habe. Sie selbst habe sogar gefragt: „Was ist, wenn etwas passiert?“ Und: „Ist bei dir schon mal etwas schief gelaufen?“
Frau D. habe sie damals beruhigt, sie sei nur „schwanger und nicht krank.“ Im Laufe der Betreuung habe sie an ihrer Hebamme und deren Zuverlässigkeit gezweifelt, aber weiter an der Hausgeburt festgehalten. „Hätte ich nur einmal auf mein schlechtes Bauchgefühl gehört. Ich gebe mir die Schuld an dem Ganzen.“
Was sind die Vor-und Nachteile einer Hausgeburt? Erfahren Sie es hier.
Die Geburt dauert lange
Bei Frau B. setzen am 9. Januar erste Wehen ein, vermutlich am 10. Januar kommt es zum Blasensprung. Der genaue zeitliche Verlauf ist komplex. Vor Gericht geht es vor allem um die Fragen, wann welche Untersuchung gemacht wurde und ab wann der Hebamme hätte bewusst sein müssen, dass diese Geburt in einem Krankenhaus hätte fortgesetzt werden müssen. Neben den Punkten, dass B. laut Staatsanwaltschaft als Risikoschwangere hätte gelten müssen, kommt während der Geburt eine angebliche Verfärbungen des Fruchtwassers und ein nicht Vorankommen der Wehen dazu. Der Geburtsvorgang verzögert sich immer weiter und auch der Mutter geht es zunehmend schlechter. Wie es dem Baby geht, ist ohne bestimmte Maßnahmen wie Blutabnahme oder ein CTG nicht genau zu beurteilen. Auch habe sie zwischendurch an einen Abbruch der Hausgeburt gedacht, so die Hebamme, das direkte Gespräch mit der werdenden Mutter über das Krankenhaus aber nicht gesucht.
Mutter verspürt starke Schmerzen: „Da wusste ich, dass etwas kaputt gegangen ist.“
Frau B. beschreibt diese Phase als einen „Nebel aus Schmerz“, der sich über fast zwei Tage zieht. Zwischenzeitlich kontaktiert sie sogar selbstständig via E-Mail ein Krankenhaus. Wann was genau passiert ist, für sie kaum nachzuvollziehen. Aber an bestimmte Momente erinnert sie sich noch klar: Etwa als sie mal wieder stundenlang gebadet habe und beim Aufstehen enorme Schmerzen verspürt habe: „Da wusste ich, dass etwas kaputt gegangen ist.“ Ihre Hebamme sei währenddessen im Raum gewesen, hätte diese Situation als „Wehenpause“ eingeordnet und sei dann in die Küche gegangen, um ihre Steuererklärung zu machen, so der Vorwurf der Mutter. Die Steuer-Akten hätte Frau D. dabei gehabt und immer wieder bearbeitet. Die Mutter weint bei dieser Aussage. Sie habe ab diesem Zeitpunkt gespürt, dass es jetzt zu spät sei und keine Kindsbewegungen mehr wahrgenommen.
Die Fahrt ins Krankenhaus kommt zu spät
Die Hebamme sei am Morgen des 13. Januars, also vier Tage nach Beginn der Wehen, nach Hause gefahren. Sie habe etwas zu Essen und ein Planschbecken holen wollen, in dem B. wohl gerne gebären wollte. Als sich die Eltern bei ihr melden und von der fehlenden Kindsbewegung sprechen, kommt sie zurück in die Wohnung. Erst jetzt entschließt man sich, eine Hausarztpraxis mit einem Ultraschallgerät aufzusuchen, zu Fuß. Die Ärztin dort stellt nur noch einen schwachen Herzschlag des Ungeborenen fest. Eine Fahrt ins Krankenhaus Vechta dauert dann noch mal eine Stunde. In diesem Moment sei der Hebamme ebenfalls klar gewesen, dass es keine Hoffnung mehr gebe. Im Krankenhaus kann nur noch der Tod des Babys festgestellt werden. Frau B. bringt das Mädchen zur Welt, kehrt am nächsten Tag mit einem weißen Karton samt einiger Fotos und einer Babymütze nach Hause zurück. Für sie ist eine Welt zusammengebrochen. Noch im Krankenhaus wird Hebamme Sabine D. laut eigener Aussage vom Chefarzt angegangen und des Gebäudes verwiesen. Sie selbst sagt aus, dass sie sich zu dem Zeitpunkt wie eine Mörderin gefühlt habe. Warum sie nicht früher eingeschritten sei, sie könne es sich nicht erklären.
"Er ist kein Ersatz, aber er hat mein Herz repariert"
Frau B. fällt nach der Geburt in ein tiefes Loch, leidet an Panikattacken, der Kindsvater verliert seine Arbeit. Erst als sie kurze Zeit später wieder schwanger wird, geht es der Familie besser. Der Sohn sei in einem Krankenhaus zur Welt gekommen, per Kaiserschnitt. Ein „fantastischer Bengel. Er ist kein Ersatz, aber er hat mein Herz repariert“, sagt B. im Gericht. Trotzdem seien die Folgen der dramatischen Geburt bei den Eltern und Geschwistern bis heute spürbar.
Sabine D. darf seit 2017 nicht mehr als Hebamme praktizieren, war zwischenzeitlich wegen Depressionen in Therapie. Auch wenn sich beide Frauen selbst für die Geschehnisse schwere, persönliche Vorwürfe machen und gegenseitig in Frage stellen, so sagt die Angeklagte in der Verhandlung selbst, dass es ihre Verantwortung als Hebamme gewesen sei, die Hausgeburt abzubrechen: Im Rückblick hätte sie vieles anders gemacht. Am 29. November will das Gericht ein Urteil sprechen. Nach acht langen Jahren ist es umso schwerer, herauszufinden, was damals wirklich passiert ist.