Dr. Zinn: „Es wird ein großes Wirrwarr geben"

Sind Lauterbachs Hotspot-Kriterien aus medizinischer Sicht sinnvoll?

Dr. Georg-Christian Zinn, Direktor Hygienezentrum Bioscientia
Dr. Georg-Christian Zinn, Direktor Hygienezentrum Bioscientia, befürchtet ein Regel-Chaos.
RTL

Ab wann ist eine Region ein Corona-Hotspot? Vier Kriterien sollen den Bundesländern laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) künftig dabei helfen, die Hotspot-Regelung umzusetzen. Alle orientieren sie sich an einer möglichen Überlastung der Krankenhäuser. Doch wie viel Sinn ergeben die Kriterien aus medizinischer Sicht? Dr. Georg-Christian Zinn, Direktor Hygienezentrum Bioscientia, ist skeptisch und befürchtet ein „ganz großes Regelungschaos“.
Lese-Tipp: Alle aktuellen Informationen zum Coronavirus finden Sie in unserem Live-Ticker auf RTL.de

Sind Lauterbachs Hotspot-Kriterien sinnvoll?

Konkrete Schwellenwerte dafür, ab wann eine Region ein Corona-Hotspot ist, soll es im Infektionsschutzgesetz nicht geben. Generelle Voraussetzung sei aber, dass eine Überlastung der Klinikkapazitäten drohe. Lauterbach zufolge gibt es vier Kriterien, an denen man dies bemessen kann: Wenn Kliniken die Notfallversorgung nicht mehr leisten können, wenn sie planbare Eingriffe absagen oder Patienten in andere Häuser verlegen müssen und wenn Untergrenzen bei Pflegekräften unterschritten werden.

Für Dr. Georg-Christian Zinn sind das allerdings wenig greifbare Kriterien, wie er im Interview mit RTL sagt. Verlegungen zwischen den Krankenhäusern seien beispielsweise auch außerhalb der Pandemie üblich. Hier müsste man lokal unterscheiden. „Frankfurt hat mehr als ein Dutzend Krankenhäuser zum Beispiel. Ist das wirklich für jedes Krankenhaus relevant?“, fragt sich Zinn. Eine Untergrenze sollte zudem auch bei Ärzten und nicht nur bei Pflegekräften eine Rolle spielen, gibt der Hygieniker weiter zu bedenken.

Welche Hotspot-Kriterien wären aus medizinischer Sicht sinnvoll?

Laut Zinn müssten die Hotspot-Kriterien weiter gefasst werden, wie er im RTL-Interview erklärt. Was im Hinblick auf Lauterbachs Kriterien relevant sein könne, sei die Absage von geplanten Behandlungen oder Operationen. „Aber auch da muss man schauen. Das kann lokal sehr unterschiedlich sein. Und ist natürlich nur ein Blick auf das Medizinische“, so Zinn. „Wenn wir jetzt auf Schulen zum Beispiel achten oder auf Personalmangel bei der Feuerwehr oder Polizei, das wäre dann kein Kriterium, einen Hotspot auszurufen. Ich glaube, die Hotspot-Kriterien müssten viel breiter ausgelegt werden.“

Anzeige:
Empfehlungen unserer Partner

Können und werden die Länder nach diesen Kriterien überhaupt Hotspots ausrufen?

„Ich glaube, wir werden da auf ein ganz großes Regelungschaos hinauslaufen“, befürchtet Zinn. „Viele Länder trauen sich nicht, das gesamte Bundesland als Hotspot auszurufen, weil sie Angst haben, dass die Gerichte die Hygienemaßnahmen sehr schnell stoppen werden.“ Andererseits hätten sie dadurch, dass die Hotspot-Regelungen immer von den Landesparlamenten ausgerufen werden, keine Möglichkeit, schnell zu reagieren, erklärt er weiter.

„Von daher wird das eine sehr ungenügende Regelung sein, die aus meiner Sicht fast sogar gefährlich sein wird, weil wir nicht wirklich vernünftige, schnelle und gute Corona-Schutzmaßnahmen ausrufen können.“

Was bedeutet das konkret für uns Bürger?

„Es wird ein großes Wirrwarr geben und es wird sehr sehr undurchsichtig für den Bürger sein“, erklärt Zinn. „Und was mich als Hygieniker ärgert, ist: Wir werden nicht mehr schnell handlungsfähig sein. Dass ein Kreis, eine Stadt sagt, ab morgen gilt eine Maskenpflicht in der Innenstadt, oder die Schulen haben wieder eine Maskenpflicht. Diese schnellen einfachen Regelungen werden nicht mehr kommen können.“

Bayern fordert eine bundesweite Maskenpflicht - wie sinnvoll ist das noch?

Die Forderung nach einer bundesweiten Maskenpflicht müsse man zweiteilen, sagt Zinn: „Aus hygienischer Sicht ist eine bundesweite Maskenpflicht in geschlossenen Räumen ganz sicher noch eine Zeit lang extrem sinnvoll. Aus juristischer Sicht ist das sehr sehr schwer umzusetzen.“

Welche Schritte wären jetzt medizinisch sinnvoll?

„Ich glaube, ganz wichtig ist jetzt, dass wir den Bürgern eine Sicherheit geben“, sagt Zinn. „Wir müssen ganz klar sagen, wir wollen Lockerungen – aber in vernünftigem Maße. Alles wegzulassen bei einer Inzidenz von 1.700 mit 3,4 Millionen Positiven im Land, das ist extrem zu früh. Und das auf politischem Weg zu regeln – eine Pandemie, die noch extrem aktiv ist – das ist falsch.“

Zinn zufolge sind wir noch mittendrin in der aktuellen Omikron-Welle. „Wir werden noch einige Zeit mit sehr hohen Zahlen zu tun haben. Wir haben sogar Angst, dass die Zahlen sogar nochmal steigen werden, wenn jetzt keine klaren Regelungen bezüglich der noch notwendigen Hygienemaßnahmen greifen“, erklärt der Hygieniker weiter.

„Insofern wäre es uns aus medizinischer Sicht viel viel lieber, wenn wir sagen könnten, wir behalten noch bundeseinheitlich die Hygieneregeln bei, lockern dann Schritt für Schritt, sind dann aber wirklich am Ende der letzten Omikron-Welle und können dann den Sommer genießen.“

Festhalten würde Zinn vor allem noch an der Maskenpflicht in Innenräumen. Zudem seien eine gewisse Testpflicht, unter anderem in Schulen, sowie kostenfreie Schnelltests und die AHA-Regeln wichtig. (akr)

VIDEO-PLAYLIST: Alles, was Sie über Corona wissen müssen

Playlist 50 Videos

Spannende Dokus zu Corona gibt es auf RTL+

Das große Geschäft mit der Pandemie: Ausgerechnet in einer Zeit, in der jeder um seine Gesundheit bangt, finden Betrüger immer wieder neue Wege, illegal Geld zu machen. Ob gefälschte Impfpässe, negative Tests oder Betrügereien in den Testzentren – die Abzocke lauert überall. Sogar hochrangige Politiker stehen in Verdacht, sich während der Corona-Zeit die eigenen Taschen vollgemacht zu haben. Unsere Reporter haben europaweit recherchiert – die ganze Doku auf RTL+.