Komplexer als gedacht
Postleitzahl sagt Depressionen voraus? Mediziner erklärt, was an neuer Studie dran ist

Die Zusammenfassung einer internationalen Studie klingt dramatisch: In Regionen mit hoher Luftverschmutzung erkranken Menschen häufiger an Depressionen – quasi unverschuldet, für Indien machten die Wissenschaftler das an Postleitzahlen fest. Doch lässt sich das wirklich so runterbrechen? Allgemeinmediziner Dr. Christoph Specht erklärt, warum das (zum Glück) nicht so einfach ist.
Was die Wissenschaftler untersucht haben
Die Harvard-Forscher der JAMA Network Open-Studie nahmen die Daten von 8,9 Millionen Menschen unter die Lupe und stellten einen Zusammenhang zwischen dem Wohnort in einer Region mit hoher Luftverschmutzung und dem Ausbruch einer Depression im Alter von 64 Jahren und älter fest. Die Daten stammten vom amerikanischen Versicherungsunternehmen „Medicare“.
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Daraus folgerten sie, dass Menschen, die dieser Art der Luftverschmutzung ausgesetzt sind – etwa durch Industrie und Verkehr – ein erhöhtes Risiko für eine später auftretende Depression haben.
Für Indien konnten die Wissenschaftler daraufhin eine Art Landkarte entwickeln, auf der sie Regionen kennzeichneten, die eine hohe Luftverschmutzung aufweisen und die – ihrer Theorie folgend – somit Depressionen begünstigen.
Doch inwiefern sind diese Ergebnisse wirklich zutreffend? Und lassen sie sich auch auf andere Länder, etwa Deutschland, übertragen?
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Diese Zuspitzung ist ein großes Problem!
Allgemeinmediziner und Medizinjournalist Dr. Christoph Specht erklärt, dass die Interpretation der Studienergebnisse sehr einseitig sei: „Das ist zu kurz gesprungen“, so Dr. Specht im Gespräch mit RTL.
Denn: Der Zeitraum sei schlicht zu groß, um die schlechte Luftqualität als einzigen Faktor für die Depressionserkrankungen verantwortlich zu machen. „Man muss überlegen, was mit der schlechten Luftqualität einhergeht. Diese Menschen leben mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer nicht besonders privilegierten Gegend“, so die Erklärung des Mediziners. Und damit würden weitere Faktoren einhergehen, „zum Beispiel ein geringeres Einkommen und eine schlechtere Gesundheit. Es gibt andere Studien, die zeigen, dass Menschen, die in Städten mit geringerem Einkommen leben, mehr rauchen und weniger Kompetenz in Sachen Gesundheit haben“, so der Zusammenhang laut Specht.
Was genau heißt das für die neue Depressions-Studie?
An den Daten zu den Zahlen von Depressionsfällen müsse man nicht zweifeln, sagt Dr. Specht. Schwierig werde es aber bei der starken Zuspitzung des Ergebnisses.
Bedeutet: Viele Menschen, die lange in Regionen mit einer hohen Luftverschmutzung leben, erkranken später im Leben an Depressionen. Die hohe Luftverschmutzung allein ist dafür aber nicht verantwortlich, sondern viele weitere Punkte, die ebenfalls damit zusammenhängen können.
„Das heißt aber nicht, dass Stickoxid nicht krank macht“, betont Dr. Specht. Es sei lediglich sehr unwahrscheinlich, dass das der alleinige Auslöser für Depressionen sei. Wissenschaftler würden versuchen, ihre Ergebnisse verständlich zusammenzufassen. Dass dabei einzelne Aspekte verloren gehen, sei nicht ungewöhnlich, so Specht.
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Für die Wissenschaftler sind die Ergebnisse dennoch alarmierend. „Künftige Generationen müssen die Luftverschmutzung dringend eindämmen, weil von ihnen ein hohes gesundheitliches Risiko ausgeht“, erklärt die Co-Autorin der Studie, Dr. Xinye Qiu, bei CNN.