"Mittlerweile stehe ich im Leben, wenn auch nicht fest auf beiden Beinen"
EXKLUSIV: Drei Jahre nach spektakulärer Flucht - so lebt Maria Henselmann heute
2013 verschwindet Maria Henselmann mit dem 40 Jahre älteren Bernhard H.
Von Lea Haberbosch
Die größte und wichtigste Veränderung in den vergangenen 36 Monaten sei keineswegs etwas Äußerliches oder Materielles, meint Maria Henselmann, sondern diese, die in ihrem Kopf stattgefunden habe. Vor zwei Jahren hat RTL-Reporterin Romy Schiemann die Frau, deren Geschichte die Menschen jahrelang bewegt hat, das letzte Mal getroffen. Im Juli 2019 sehnte sich die 21-Jährige danach, ganz normale Dinge zu machen: studieren und Zeit mit Freunden und der Familie verbringen.
Denn „ganz normale Dinge“ machen, ein ganz normaler Teenager sein, das konnte Maria fünf Jahre lang nicht. Mit 11 Jahren lernt sie im Internet den 40 Jahre älteren Bernhard H. kennen. Sie lässt sich auf ihn ein und verschwindet als 13-Jährige später spurlos. Erst vor rund drei Jahren, am 30. August 2018, meldet sich Maria plötzlich bei ihrer Familie. Exklusiv erzählt Maria Henselmann RTL nun, wie sich ihr Leben in den letzten drei Jahren verändert hat und warum sie sich vor dem Ende der Haftstrafe von Bernhard H. fürchtet.
Maria Henselmanns wichtigste Stütze ist ihre Mutter
Braune, halblange Haare, Jeans und Bluse – beim letzten Interview trifft RTL-Reporterin Romy Schiemann eine äußerlich unbeschwert wirkende junge Frau. So wie damals sieht Maria Henselmann heute nicht mehr aus. Wie genau, will sie uns allerdings nicht zeigen. Denn es gibt viele Menschen in ihrem Umfeld, die nicht wissen, wer sie ist und sie nicht mit dem „Fall Maria Henselmann“, der die Menschen in Deutschland seit 2013 immer wieder bewegt hat, in Verbindung bringen. Maria Henselmann möchte sich diesen Hauch Anonymität verständlicherweise bewahren. Denn die letzten drei Jahre waren nicht unbeschwert: „Es war für mich kein leichter Weg bis dahin, wo ich heute stehe, und sicherlich auch nicht für die Menschen um mich herum. An erster Front immer meine Mutter, die nach fünf quälenden Jahren trotzdem noch die Kraft Tag für Tag aufbringt, mich bei jedem meiner Schritte zu begleiten, auch wenn sie nur im Hintergrund ist und sich bereit hält, falls ich wieder falle.“
Mit Mutter Monika Beisler teilt sich die Freiburgerin seit ihrer Rückkehr nach Hause eine Wohnung. Die 21-Jährige lebt in ihrem alten Kinderzimmer, mit dem sie sich zunächst nicht identifizieren konnte. „In den ersten Wochen benutzte ich nur meinen Nachttisch, da ich nicht wusste, was ich mit den anderen Schränken und dem vielen Platz anfangen sollte“, erinnert sich Maria. Ihr damaliger Besitz, alles, was ihr wichtig war, passte in eine kleine Reisetasche. Anhand dieser Tasche könne man sehen, wie sich ihr Leben mittlerweile verändert habe. Maria lacht, denn vor allem besitzt sie mehr Schuhe als früher: „Mittlerweile muss meine Mutter schon Platz in ihrem Schuhschrank machen, da mein Zimmer für meine kaum mehr reicht.“
Rückblick: Maria Henselmann lebt fünf Jahre versteckt in Sizilien
Die damals elfjährige Maria aus Freiburg lernt in einem Chat, der sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet, den angeblich 15-jährigen Karlchen kennen. Doch hinter Karlchen verbirgt sich Bernhard H. aus Nordrhein-Westfalen, 40 Jahre älter als Maria. Irgendwann gesteht er dem Mädchen die Alterslüge, trotzdem treffen sie sich. Maria ist beeindruckt von dem Mann, der für sie seine Familie und sein ganzes Leben aufgibt. Sie reisen zusammen zunächst nach Polen, dann weiter nach Italien. In Licata, einer Kleinstadt in Sizilien, finden sie Unterschlupf, halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Den Menschen gegenüber geben sie sich als Vater und Tochter aus, die Mutter sei verstorben. Wie ein Vater verhält sich Bernhard H. Maria gegenüber nicht hinter verschlossener Tür: der 40 Jahre ältere Mann missbraucht den Teenager mehrfach.
Dass ihre Familie verzweifelt nach ihr sucht, ahnt Maria nicht. Oder verdrängt es. Erst an ihrem 18. Geburtstag googelt sie sich angeblich das erste Mal selbst. Sie stellt fest, dass vor allem ihre Mutter die Hoffnung nie aufgegeben hat. Daraufhin meldet sich Maria zunächst bei ihrem Vater. Er holt sie in Italien ab und bringt sie zurück nach Hause. Kurz darauf wird Bernhard H. festgenommen. Im Jahr 2019 beginnt der Prozess gegen ihn. Das Strafgericht verurteilt ihn zu sechs Jahren Haft ohne Bewährung wegen sexuellen Missbrauchs und Kindesentzugs.
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In zwei Jahren will Maria Henselmann das Abitur machen
„Damals war ich der festen Überzeugung, dass alles allein meine Schuld war, dass alles so passiert ist, weil ich es genau so wollte“, erinnert sich Maria Henselmann rückblickend an die ersten Tage nach ihrer spektakulären Flucht. Auch heute trifft die Freiburgerin immer wieder auf Menschen, die sagen, sie hätte doch alles aus freien Stücken gemacht und ihr eine Mitschuld an den Geschehnissen geben. Doch Maria ist mittlerweile bewusst, warum man als Teenager in Deutschland als unmündig gilt und nicht allein entscheiden darf.
Maria holt zur Zeit ihren Schulabschluss nach. In zwei Jahren will sie das Abitur machen. Die 21-Jährige hat sich einen Freundeskreis aufgebaut und probiert verschiedene Hobbys aus. Auch wenn ihr Leben nun aus vielem Neuen bestehe, bleibe die Vergangenheit immer präsent, so Maria, und das meint sie nicht nur negativ. Denn „einer dieser Teile meiner Vergangenheit rollt sich abends immer an meinem Fußende zusammen, der Hund aus Italien.“
RTL hatte Maria nach ihrer Rückkehr geholfen, ihre Hündin, die sie bei dem Aufbruch aus Sizilien zurücklassen musste, zurück zubekommen. Der Vierbeiner hatte ihr in der schlimmsten Zeit Trost gespendet und ist nun ein treuer Weggefährte. Zu ihrer „Zieh-Oma“, die in Licata eine der stärksten Stützen für Maria war, hat die Schülerin weiterhin Kontakt, ebenso spielen andere Menschen von damals eine wichtige Rolle in Marias heutigem Leben. „Sie erinnern mich immer wieder daran, dass ich mich selbst in den schlimmsten Situationen niemals aufgegeben hatte und das dies allein schon ein Grund ist, Tag für Tag meinen Kampf weiterzuführen“, sagt sie RTL-Reporterin Romy Schiemann.
Maria Henselmann fürchtet sich vor Haftende von Bernhard H.
Nach Verbüßen seiner sechsjährigen Haftstrafe kommt Bernhard H. 2024 aus dem Gefängnis. Bei guter Führung verkürzt sich die Haftzeit, dann wäre er bereits nach vier Jahren, also 2022, frei. Maria Henselmann spricht von „Angst“ und „einer gewissen Furcht“, wenn sie an den Zeitpunkt der Haftentlassung des Mannes, „der mir das alles angetan hat“, denkt. Denn dann sehe sie sich erneut mit „Tat und Täter konfrontiert“.
Deswegen werden die nächsten Jahre wohl nicht einfacher für die 21-Jährige. Vor allem ein Gedanke beunruhigt Maria: „Ich bin mir nicht sicher, dass er mich mein Leben zukünftig so leben lässt, wie ich das möchte.“