Epidemiologe Timo Ulrichs im Interview
Corona-Inzidenz steigt: Nicht nur Mutationen schuld!

Zwei Tage in Folge lag die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland über der von vergangener Woche. Auch der R-Wert steigt seit Tagen kontinuierlich und liegt deutschlandweit mittlerweile wieder bei 1,10 (Stand: 22.02.). Zeichnet sich hier bereits die befürchtete Trendwende durch die Ausbreitung der britischen Corona-Variante ab? Epidemiologe Timo Ulrichs meint: Das muss nicht unbedingt so sein! Im Interview mit NTV erklärt er außerdem, welche Corona-Maßnahmen wirklich effektiv sind.
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ntv.de: Die 7-Tage-Inzidenz wandert nach oben. Ist es trotzdem gut, die Schulen zu öffnen?
Timo Ulrichs: „Bei dieser Frage lohnt sich der Blick nach Frankreich: Die Franzosen haben ihre Schulen die ganze Zeit offen und liegen mit ihrer 7-Tage-Inzidenz derzeit bei 133. Ihr Wert ist nicht niedrig, aber relativ konstant und hatte kaum Ausreißer nach oben oder unten. Das zeigt, dass man bei stringenten Maßnahmen durchaus Bereiche öffnen kann - in dem Fall die Schulen. Von dem leichten Anstieg derzeit sollten wir uns nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern auf dem Weg bleiben, mit vorsichtigen Öffnungen. Wir wagen es kontrolliert.“
Dr. Georg-Christian Zinn, Direktor des Hygienezentrums Bioscientia pflichtet dem bei: „Ich kann die Bedenken der Lehrer verstehen, aber ich kann sie auch zu einem gewissen Teil beruhigen, wenn wir uns die nationalen und internationalen Studien angucken.“
Und müssen wir an anderer Stelle gegensteuern?
Timo Ulrichs: „Noch nicht. Wir sollten uns das Infektionsgeschehen noch einige Tage anschauen. Es kann durchaus sein, dass diese leichte Veränderung, die wir derzeit sehen, nur ein Ausreißer nach oben ist, aber dass der generelle Trend immer noch nach unten zeigt. Wenn man das Infektionsgeschehen runterbricht auf die verschiedenen Regionen in Deutschland, und vor allem auch auf solche wie den Raum Flensburg schaut, wo die britische Mutante schon stärker verbreitet ist, kann man feststellen: Wir sehen dort aktuell keinen viel stärkeren Anstieg als in den Regionen, in denen noch kein so großer Anteil an B.1.1.7 nachgewiesen wurde.“
Dr. Georg-Christian Zinn: „Ich glaube nicht. Ich hoffe, dass wir mit den Hygienemaßnahmen, die wir jetzt noch im Lockdown haben, soweit kommen, dass wir keine Explosion der Zahlen haben. Wir müssen schauen, dass die Hygieneregeln weiter eingehalten werden. Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre eine Rolle rückwärts, auch dass die Schulen wieder zugemacht werden.“
LESE-TIPP: Andere Symptome bei britischer Corona-Mutation – so äußert sich die Covid-19-Mutante
Dann ist nach Ihrer Einschätzung der aktuelle Anstieg der 7-Tage-Inzidenz nicht unbedingt auf B.1.1.7 zurückzuführen?
Timo Ulrichs: „Nein, wir haben noch einige andere Faktoren, die dazu beitragen können. Auf der Wirkseite haben wir das Problem, dass die Lockdown-Maßnahmen nicht mehr ganz so gut befolgt werden wie noch am Anfang. Es kommt ja weiterhin darauf an, wie wir unsere Kontakte beschränken, Abstände einhalten, Masken tragen - wenn wir da nachlässig werden, dann kann das schon dafür sorgen, dass die Entwicklung nicht mehr so stringent nach unten geht. Ich würde nicht allein die neuen Varianten dafür verantwortlich machen.“
So sieht es auch Dr. Georg-Christian Zinn. Er stimmt Timo Ullrichs zu und spricht von einer Mischkalkulation. „Einerseits haben wir, wie in Flensburg, Gebiete, wo die britische Variante hohe Infektionsraten zeigt. Auf der anderen Seite hatten wir durch das Wintervergnügen in manchen Bereichen, durch das gute Wetter, eine Menge Leute, die sich nicht mehr so fest an die Lockdown-Regeln gehalten haben.
Das Rodeln und Eislaufen vor etwa zwei Wochen könnte sich also jetzt in den Zahlen bemerkbar machen, glaubt auch Timo Ullrichs: „Das könnte sein. Draußen kommt nämlich hinzu: Bei niedrigen Temperaturen reagiert das Immunsystem verlangsamt, gerade in dieser allerersten Infektionsabwehr auf den Schleimhäuten. Da kann sich das Virus dann leichter festsetzen. Winter ist einfach günstig für die Weitergabe.“

Falls wir Pech haben und der ansteigende Trend anhält: Wo können wir noch ein Werkzeug herholen, um das Virus wieder zurückzudrängen?
Timo Ullrichs: „Wenn wir auch noch nicht genau sagen können, mit welchem Risiko in welchen Situationen Übertragungen stattfinden, so kann man aber ziemlich genau sagen, welche Maßnahmen etwas bringen und welche eher nicht. Zum Beispiel die Ausgangssperre, die uns die Franzosen vormachen, die ist tatsächlich effektiv.“
Dr. Georg-Christian Zinn: „Wir können noch extrem viel gegensteuern. Die Frage ist, wollen wir das hören. Wir können den Lockdown immernoch verschärfen. Dann gibt es Ausgangsbeschränkungen, 15 Kilometer-Regeln um den eigenen Wohnort, dann gibt es zusätzlich geschlossene Einrichtungen, also da gibt es noch einiges. Wir wollen das aber nicht mehr. Deswegen meine Bitte an alle: Die Regeln bitte einhalten.“
Gerade die Ausgangssperre erscheint vielen als ein Verbot, das völlig am Infektionsgeschehen vorbeireguliert.
Timo Ullrichs: „Das verstehe ich. Natürlich ist es völlig ungefährlich, abends allein mit dem Hund spazieren zu gehen. Und wenn manche Menschen erst am Abend im Supermarkt einkaufen, vermeiden sie damit die Stoßzeiten vom Tag. In dem Fall ist eine abendliche Ausgangssperre sogar kontraproduktiv. Sie wird holzschnittartig und grob übergestülpt und Einzelsituationen können dadurch abstrus erscheinen.“
Bei so vielen negativen Effekten muss jetzt dringend ein "aber" kommen.
Timo Ullrichs: „Aber bei der Reduzierung der abendlichen Kontakte wirkt die Ausgangssperre sehr gut, denn sie ist so leicht überprüfbar: Die Polizei fährt durch die Stadt und sollte niemanden mehr ohne triftigen Grund antreffen. Letztlich sichert die Ausgangssperre nur ab, dass die Kontaktsperre wirklich eingehalten wird. Und damit kann man die Kontaktzahlen in den Randzeiten nochmal so stark nach unten drücken, dass es die eben erwähnten negativen Effekte aufwiegt.“
Sehen Sie derzeit Chancen, dass wir die Infektionszahlen Richtung Null drücken könnten - wie es die "No-Covid"-Strategie vorschlägt?
Timo Ullrichs: „Es wird uns jetzt nicht gelingen, zu einer sehr niedrigen Inzidenz zu kommen, dazu ist das Infektionsgeschehen im Winter zu schwierig zu handhaben. Aber dass man es unter Kontrolle halten kann, zeigen Beispiele andere Länder. Auch Belgien hatte ja eine Spitze im November und jetzt sind sie in der Inzidenz um 100. Man kann also einen Kurs fahren, bei dem man Covid-Patienten hat, aber nicht immer im roten Bereich bei der Intensiv-Versorgung ist. Richtung Frühling könnte es aus meiner Sicht klappen, dass wir weitere Öffnung bekommen können oder wir bleiben dann noch einmal stringent eine Weile im Lockdown und bringen die Zahlen richtig nach unten.“
Mit Timo Ulrichs sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de
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