Weltweit mehr als 200 Millionen BetroffeneChirurg hilft beschnittenen Frauen: „Jede einzelne Geschichte der Patientinnen berührt mich“

Mit Glasscherben, Rasierklingen oder scharfkantigen Steinen werden die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane entfernt.
Anschließend wird der Scheideneingang bis auf ein winziges Loch verschlossen. Weltweit sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschnitten. Auch in Deutschland leben nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes mehr als 100.000 beschnittene Mädchen und Frauen, mehr als 17.000 Mädchen sind derzeit potenziell gefährdet. Die Folgen für die Betroffenen dauern ein Leben lang an – körperlich und seelisch.
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Mediziner hilft betroffenen Frauen, wichtige Funktionen und ihre Würde zurückzubekommen
Mediziner wie Privatdozent Dr. med. Dan mon O'Dey, Chefarzt am Luisenhospital in Aachen, geben Patientinnen dank moderner OP-Verfahren wichtige körperliche Funktionen zurück – und die eigene Würde. „Jede einzelne Geschichte der Patientinnen berührt mich“, sagt O'Dey. Vor allem die Geschichte einer Patientin hat ihn dabei nachhaltig beeindruckt.
„Aus medizinischer Perspektive sprechen wir von einer Amputation“
Mädchen werden weltweit häufig im späten Kindes- und frühen Jugendalter, teilweise aber auch schon als Baby beschnitten. Mit unsterilen, nicht medizinischen Schneidegegenständen werden meist ohne Betäubung die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane, also die Klitorisspitze, die Klitorisvorhaut sowie die inneren und äußeren Schamlippen teilweise oder komplett entfernt. Zusätzlich wird der Scheideneingang unvollständig verschlossen.
„Aus medizinischer Perspektive sprechen wir deshalb von einer Amputation“, erklärt Privatdozent Dr. med. Dan mon O'Dey, Chefarzt der Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, in einer Pressemitteilung zum „Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung“. Besonders schlimm seien die Auswirkungen für Betroffene, wenn die Beschneidung bereits im Babyalter stattgefunden habe. Das könne ausgedehnte Amputationsdefekte zur Folge haben, ergänzt der Mediziner im Interview mit RTL.
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„Viele Patientinnen sagen, dass sie nicht verstehen können, warum ihnen die Beschneidung angetan wurde“
Unter den Folgen der menschenrechtswidrigen Beschneidung leiden Mädchen und Frauen oft ein Leben lang. Durch die Entfernung der Klitorisspitze ist das sexuelle Empfinden stark beeinträchtigt. Hinzu kommen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Probleme beim Urinieren sowie Schmerzen bei der Periode. Wurde bei der Beschneidung der Scheideneingang massiv verengt, kann das zudem negative Auswirkungen auf den Geburtsvorgang haben.
Neben den körperlichen Folgen hat die traumatische Genitalverstümmelung auch Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen. „Viele Patientinnen sagen, dass sie nicht verstehen können, warum ihnen die Beschneidung angetan wurde“, sagt O’Dey. Das bewirke wiederum innere Konflikte.
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Moderne OP-Verfahren ermöglichen Rekonstruktion der Genitalien
Um betroffenen Mädchen und Frauen zu helfen, hat sich PD Dr. Dan mon O'Dey mit der Entwicklung eigener OP-Techniken auf die anatomische Rekonstruktion der äußeren weiblichen Genitalien spezialisiert. Dank der modernen Operationsverfahren gründete er im Jahre 2014 das Zentrum für Rekonstruktive Chirurgie weiblicher Geschlechtsmerkmale am Luisenhospital Aachen.
„Das Potenzial der Rekonstruktion ist abhängig vom Beschneidungsausmaß und der angewandten operativen Technik“, erklärt der Mediziner. Je nach Grad der Verstümmelung gibt es verschiedene Therapieformen von der Wiederöffnung des Scheideneingangs über die Schamlippenrekonstruktion bis hin zur mikrochirurgischen Neuformung der Klitorisspitze. Frauen haben so die Chance, ihr sexuelles Lustempfinden bis hin zur Orgasmusfähigkeit zurückzugewinnen.
Betroffene fand nach Rekonstruktion „sowohl ihr Selbstvertrauen als auch ihre Würde wieder“
Bei seiner Arbeit kommt O’Dey mit vielen Schicksalen betroffener Mädchen und Frauen in Kontakt. „Jede einzelne Geschichte der Patientinnen berührt mich. Es gibt jedoch insbesondere eine, die mich nachhaltig beeindruckt“, erzählt er im Interview.
O’Dey spricht von einer jungen beschnittenen Frau, die auf der Flucht in Libyen massiv mit einer Eisenstange genital verletzt wurde und sich zur Rekonstruktion mit einem viertgradigen Scheiden-Dammriss bei ihm vorstellte.
„Nach der aufwändigen, anatomischen Rekonstruktion wurde sie selbstbestimmt schwanger, gebar ihr Kind auf natürlichem Wege und fand sowohl ihr Selbstvertrauen als auch ihre Würde wieder“, erinnert sich O’Dey. „Ihre Geschichte spiegelt für mich die innere Kraft der von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM/C) betroffenen Mädchen und Frauen wider und zeigt gleichzeitig das heilende Potenzial der anatomischen Rekonstruktion.“
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Betroffene Frauen wollen Recht auf Selbstbestimmung
Damit noch mehr Frauen medizinische Hilfe bekommen, sei Aufklärung essentiell – sowohl von Betroffenen als auch von Medizinern, erklärt O’Dey. Hierfür müsse auch bei Medizinstudierenden angesetzt werden. Denn: Mit wachsender Aufklärung wünschen sich immer mehr beschnittene Frauen eine Rekonstruktion ihrer Genitalien, um Beschwerden und Einschränkungen ein Ende zu setzen – und um endlich ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen zu können.