Lässt der Staat Opfer von Gewalt im Stich? Gewaltopfer klagt an: „Wir müssen kämpfen und gehen daran zugrunde!”

Ein Tag ändert alles!
Nach einem brutalen Angriff leidet Denise Carstens an einer posttraumatischen Belastungsstörung, bestätigt ein Gutachten. Schlafstörungen und Ängste seien seitdem ein fester Bestandteil ihres Lebens. Die 40-Jährige kämpft um ihr Recht auf Entschädigung: und zwar mit dem Staat. Der ist gesetzlich dazu verpflichtet, Opfer von Gewalttaten zu unterstützen. Doch in der Realität kommt offenbar nur bei wenigen Opfern die Hilfe auch an.
Traumatischer Angriff
Am 23. Juli 2021 greift ein Mann, mit dem sie keine Beziehung wollte, Denise Carstens auf der Straße an. Eine Augenzeugin kommt ihr zu Hilfe und alarmiert die Polizei. Der Täter ist bis heute nicht gefasst. Sie wird bei dem Überfall zwar körperlich nur leicht verletzt – Denise Carstens kämpft trotzdem, so sagt sie, bis heute mit den Folgen des traumatischen Angriffs: „Ich habe Ängste, ich kann mich alleine frei gar nicht bewegen. Also ich habe ja auch massive Einschränkungen in alltäglichen Dingen, beim Einkaufen”, sagt Carstens im RTL-Interview.
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Ein Erlebnis bringt alles wieder hoch
Als sie körperlich wieder gesund ist, habe die Mutter einer Tochter für kurze Zeit wieder in ihrem Job als Krankenschwester in der Notaufnahme gearbeitet. Doch dann sei eine Frau eingeliefert worden, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist. „Da war ich in einer so Schockstarre. Also, man will helfen. Man kann aber nicht. Ich kann das gar nicht beschreiben. Sie stehen davor, es tut alles weh, die Bilder kommen plötzlich hoch. Was habe ich dann gemacht? Ich bin schreiend weggelaufen. Ich konnte der Frau nicht helfen”, beschreibt die 40-Jährige die Situation.
Sie gibt ihren Job auf und lebt von Krankengeld. Im August 2021 beantragt sie im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes finanzielle Entschädigung beim Land Niedersachsen. Zuvor habe ihre Hausärztin eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert. Das Landesamt lehnt den Antrag allerdings ab – denn eine Ärztin des Amtes diagnostiziert Denise C. lediglich einen Schädigungsgrad von 20%. Erst ab 30% Grad der Schädigung haben Opfer von Gewalt ein Recht auf finanzielle Unterstützung.
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Weißer Ring: „Jeder zweite Antrag wird abgelehnt!”
Auch die Opferhilfe der Weiße Ring kritisiert die Behörden im Umgang mit den Opfern. Durch lange Bearbeitungszeiten mache man es Betroffenen zusätzlich schwer, auch von Retraumatisierung ist die Rede. Im Fall von Denise Carstens werden über die Jahre mehrere Gutachten in Auftrag gegeben. Jedes Mal muss die Frau aufs Neue von der Tat und ihren Folgen berichten, das falle vielen Opfern enorm schwer: „Durch diese stetige Begutachtung, es bleibt ja meist nicht nur bei einer, sind auch viele Betroffene irgendwann nervlich am Ende und schaffen diesen Prozess auch nicht mehr. Das heißt, über 20% der Anträge werden tatsächlich auch einfach zurückgenommen”, sagt Lena Weilbacher vom Weißen Ring im RTL-Interview.
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Im Juni 2022 veröffentlicht der Weiße Ring einen Report zum Opferentschädigungsgesetz. Die Hilfsorganisation kommt zu dem Ergebnis: Die versprochene Hilfe kommt bei den Gewaltopfern oft nicht an: „Im Jahr 2023, die Zahlen liegen uns auch schon vor, wurde jeder zweite Antrag abgelehnt. Also das ist ja eine gigantische Zahl”, sagt Lena Weilbacher zu RTL Nord.
Der Kampf mit den Behörden
Denise Carstens legt Widerspruch ein. Im April 2023 wird sie ein zweites Mal von einem weiteren Gutachter des Landesamts beurteilt. Der diagnostiziert diesmal einen Schädigungsgrad von 50%. Damit hätte sie Anspruch auf Unterstützung, doch das Landesamt lehnt den Antrag ab und widerspricht dem Gutachter. Carstens klagt gegen die Entscheidung vom Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie. Das Sozialgericht Hildesheim entscheidet momentan, ob der Klage zugestimmt wird.
Gewalt gegen Frauen nimmt zu
Die Fälle häuslicher Gewalt haben im vergangenen Jahr erneut zugenommen. Wie das Bundeskriminalamt am Freitag (21. November 2025) in einem Lagebericht zur Gewalt gegen Frauen bekannt gibt, hat es 2024 deutschlandweit fast 266.000 Opfer häuslicher Gewalt gegeben. Das waren etwa 10.000 mehr als im Jahr zuvor. 308 Frauen und Mädchen wurden getötet – meistens von einem Partner, Ex-Partner oder einem anderen Familienmitglied.
Der „Orange Day” macht jährlich am 25. November die alltägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sichtbar.
Verwendete Quellen: Eigene RTL-Recherche, Bundeskriminalamt, Weißer Ring e.V.


































