„Das ist heftig“Sorge vor Hitze-Drama: Athleten laufen gegen Marathon-Ansetzung Sturm

Hitzige Diskussionen über den Startzeitpunkt: Der Marathonlauf bei der EM in München ist der Auftakt in die Leichtathletikentscheidungen – und Teil einer Hitze-Debatte. Die Veranstalter halten trotz der Ansetzung im Hochsommer bislang an einer sehr späten Startzeit fest. Zum völligen Unverständnis von Läufern und dem Mannschaftsarzt.
Bei Sonnenhöchststand in die Endphase

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Stellen Sie sich vor, Sie haben einen langen, intensiven und strapaziösen Lauf vor sich. Mitten im Sommer, über mehrere Stunden. Und als Startzeit wird dann von den Organisatoren 11:30 Uhr ausgewählt. Also genau dann, wenn kurz darauf der Sonnenhöchststand erreicht ist und die Temperaturen mit am höchsten sind. Klingt unlogisch, doch genau damit sind die Profi-Läufer bei der Leichtathletik-EM in München konfrontiert - zumindest Stand jetzt.
Das wirft die Frage auf: Droht beim ersten Highlight der Heim-EM ein Hitze-Chaos? Eigentlich sollten solche Szenen verschwinden oder minimiert werden: Läufer und Läuferinnen, die in der Hitze leiden und sogar kollabieren, mit dem Rollstuhl weggebracht werden. Die Marathonrennen bei Olympia 2021 in Sapporo und der WM in Doha 2019 lieferten viele solcher Bilder, auch zum Missfallen des Weltverbandschefs Sebastian Coe. Umso überraschender war für viele Beteiligten die Ansetzung des 42,195 Kilometer langen Laufes in München. Um 11:30 Uhr (10:30 Uhr bei den Frauen) geht es am 15. August in der bayrischen Landeshauptstadt los. Bedeutet: In einer möglichen Mittagshitze im August befinden sich die Athleten dann mitten im Lauf oder später im Endspurt.
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Als Anfang des Jahres der Zeitplan veröffentlicht wurde, verstand Marathonläufer Richard Ringer die Welt nicht mehr. "Dann ist mir gleich in den Kopf gekommen: Das ist heftig", sagt er im Gespräch mit RTL/ntv. Gedanken an den Hitze-Lauf von Olympia 2021 kamen auf. Dort wurde Ringer bester Deutscher, aber machte unerfreuliche Bekanntschaft mit der Hitze. "In Sapporo waren es bei den Startzeiten 6 und 7 Uhr 30 Grad. Das war extrem. Wenn man gesehen hat, wie viele Athleten nicht ins Ziel gekommen sind und kollabiert sind – und das sind Profi-Athleten." Ihm sei dann die Idee kommen, "ob wir das nicht anprangern können und aufschreiben können." Mit anderen Athletinnen startete er eine Petition, die sich dafür einsetzte, die Startzeit bei der EM zu verschieben.
"Absolut kontraproduktiv"

Viele Sportlerinnen unterschrieben, die Resonanz beim europäischen Verband European Athletic Association (EAA) aber war verhalten. "Der Einfluss von uns oder dem Deutschen Leichtathletik-Verband ist sehr gering", sagt Ringer. Er berichtet von einem Schreiben des europäischen Verbands mit der Aussage, dass sich nur der deutsche Verband beschwert hätte. Ringer und Co. legten nach, sammelten auch von internationalen Läufern und Läuferinnen Unterschriften. Doch bislang bewegte sich der europäische Verband nicht. Eine Woche vor Beginn der EM steht der Plan mit Startzeit 11:30 Uhr. Am Montag teilte die Interessenvereinigung Athleten Deutschland mit, dass mehr als 50 Athletinnen und Athleten in einem Offenen Brief an die Veranstalter appelliere, die Gesundheit der Athletinnen und Athleten zu schützen und den Start in die Morgenstunden zu verlegen.
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Unklar ist aktuell, wie warm es wirklich wird. Das lässt sich eine Woche vorher noch nicht genau sagen. Die Tages-Höchsttemperaturen schwanken je nach Vorhersage zwischen 25 und über 30 Grad. August eben.
Mit Sorge auf die Vorhersagen blickt auch Hendrik Pfeiffer, der wie Ringer am EM-Marathon teilnimmt. "Es ist natürlich absolut kontraproduktiv für Disziplinen wie den Marathonlauf, weil es eben ab 20 Grad so ist, dass man den Körper runterkühlen muss", erklärt er. "Wenn man dann mit Temperaturen mit 30 oder mehr Grad konfrontiert wird, dann kommen wir in Bereiche, in denen es gesundheitsgefährdend wird. Weil dann auch mehr auf dem Spiel steht als ein sportlicher Wettstreit, dann drohen auch Konsequenzen, dass die Leute umkippen und Schlimmeres passiert."
Pfeiffer hat die Petition für die Änderung der Startzeit unterschrieben. Wie sein Kollege Ringer ist er enttäuscht von der Reaktion. "Wir haben viel versucht, die Organisatoren zum Einlenken zu bringen. Bisher sind wir noch nicht auf offene Ohren gestoßen."
Veranstalter hoffen auf Zuschauer an der Strecke und im TV
Die EAA und die "European Championships 2022", unter deren Dach vom 11. bis 21. August in München mehrere Europameisterschaften wie die Leichtathletik-EM stattfinden, ließen eine Anfrage von RTL/ntv über die Gründe und Hintergründe für die Uhrzeit zunächst unbeantwortet.
Später antwortete der Verband, dass er und das lokale Organisationskomitee „ständig die sich entwickelnde Situation beobachten“ und „alle relevanten Faktoren, einschließlich aller Änderungen der Risikobewertung in Bezug auf die Gesundheit der Läufer“ berücksichtigen.
Anfang des Jahres hatten sie in einem Statement die Vorgehensweise begründet. Damals hieß es laut dem Fachportal "Runnersworld": "Wir erwarten in München angesichts der Starttermine viele tausend Zuschauer an der Strecke und hohe TV-Einschaltquoten und wollen dies nutzen, um den Laufsport weiter zu bewerben und damit auch einen gesunden Lebensstil." Die Gesundheit und Sicherheit der Athleten "hat für uns oberste Priorität". Und weiter: "Wenn es vor Ort offensichtlich werden sollte, dass die Wetterbedingungen risikoreich für die Athleten sein könnten, wird entschieden, entweder die Startzeiten zu verschieben, den Termin zu ändern oder im Extremfall sogar die Rennen ganz abzusagen."
Auf die Uhrzeit angesprochen, antworteten EAA und European Championships, dass die Wettersituation durch historische Wetterdaten analysiert worden sei. Der Schluss: Die Bedingungen zu den geplanten Zeiten seien "akzeptabel und ohne besondere Risiken für die Gesundheit der Athleten". Ob sich das in der kommenden Woche noch halten lässt, wenn die Temperaturen tatsächlich klettern sollten? Unklar.
„Wir werden sicherlich nicht zögern, Entscheidungen des Medizinischen Delegierten und des Technischen Delegierten in solchen Angelegenheiten umzusetzen, wenn Änderungen erforderlich sind, um die Gesundheit der Teilnehmer zu gewährleisten“, schrieb EAA auf RTL/ntv-Anfrage. Man könne allen Athleten versichern, dass man bereit sei, „Änderungen vorzunehmen, einschließlich der Startzeiten, falls die Umstände dies erfordern sollten“.