"Absolut kontraproduktiv"
Angst vor Hitze-Marathon: Das sagen deutsche Läufer und der Mannschaftsarzt

Die Angst vor einem Hitze-Rennen beim EM-Marathon in München ist gewaltig. Trotz des Termins am 15. August halten die Veranstalter bislang an einem späten Start um 11:30 Uhr fest. Athleten und Athletinnen rebellieren. Was betroffene deutsche Läufer und der DLV-Mannschaftsarzt dazu sagen.
Bei Sonnenhöchststand in die Endphase

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Als Anfang des Jahres der Zeitplan veröffentlicht wurde, verstand Marathonläufer Richard Ringer die Welt nicht mehr. "Dann ist mir gleich in den Kopf gekommen: Das ist heftig", sagt er im Gespräch mit RTL/ntv. Gedanken an den Hitze-Lauf von Olympia 2021 kamen auf. Dort wurde Ringer bester Deutscher, aber machte unerfreuliche Bekanntschaft mit der Hitze. "In Sapporo waren es bei den Startzeiten sechs und sieben Uhr 30 Grad. Das war extrem. Wenn man gesehen hat, wie viele Athleten nicht ins Ziel gekommen sind und kollabiert sind – und das sind Profi-Athleten." Ihm sei dann die Idee kommen, "ob wir das nicht anprangern können und aufschreiben können." Mit anderen Athletinnen startete er eine Petition, die sich dafür einsetzte, die Startzeit bei der EM zu verschieben.
Am Montag teilte die Interessenvereinigung Athleten Deutschland mit, dass mehr als 50 Athletinnen und Athleten in einem Offenen Brief an die Veranstalter appellieren, die Gesundheit der Athletinnen und Athleten zu schützen und den Start in die Morgenstunden zu verlegen.
Aktuell steht noch der Plan mit dem späten 11:30-Uhr-Start.
"Absolut kontraproduktiv"

Mit Sorge auf die Vorhersagen blickt auch Hendrik Pfeiffer, der wie Ringer am EM-Marathon teilnimmt. "Es ist natürlich absolut kontraproduktiv für Disziplinen wie den Marathonlauf, weil es eben ab 20 Grad so ist, dass man den Körper runterkühlen muss", erklärt er. "Wenn man dann mit Temperaturen mit 30 oder mehr Grad konfrontiert wird, dann kommen wir in Bereiche, in denen es gesundheitsgefährdend wird. Weil dann auch mehr auf dem Spiel steht als ein sportlicher Wettstreit, dann drohen auch Konsequenzen, dass die Leute umkippen und Schlimmeres passiert."
Pfeiffer hat die Petition für die Änderung der Startzeit unterschrieben. Wie sein Kollege Ringer ist er enttäuscht von der Reaktion. "Wir haben viel versucht, die Organisatoren zum Einlenken zu bringen. Bisher sind wir noch nicht auf offene Ohren gestoßen."
"Wer macht diese Termine?"
Es ist sehr gut möglich, dass die Ausrichter noch kurzfristig reagieren oder sogar reagieren müssen. Auch bei Olympia wurde am Abend zuvor der Start der Frauen um eine Stunde nach vorne verlegt - da waren einige Athletinnen nur schon im Bett, berichtet Olympionike Ringer. Was ihn und Pfeiffer nervt: Dass schon Anfang des Jahres die späte Zeit ausgewählt und dann daran festgehalten wurde - obwohl eine Hitze-Problematik im August recht wahrscheinlich ist.
„Da es so vermeidbar wäre, eben die Startzeit früher zu legen, hat das keiner von uns aus der Sportszene verstanden, warum das gemacht wird. Klar kann es, sein dass es regnet und kühl ist. Aber das Risiko hoher Temperaturen ist im August eben exorbitant hoch", sagt Marathonläufer Pfeiffer. "Ich bin aber nach wie vor zuversichtlich, dass sich am Ende der gesunde Menschenverstand durchsetzen wird und die Interessen, welche auch immer das sein sollen, hinter der Gesundheit der Sportler angesiedelt werden."
Als Athlet wünsche man sich, "dass es bewölkt und nicht zu heiß ist", sagt Ringer. "Das ändert nichts daran, dass die Organisation von Anfang an darüber hinweg gesehen hat. Man kann schlecht aufs Wetter hoffen, wir haben jetzt gesehen, wie heftig es werden kann." Das Ganze habe einen "bitteren Beigeschmack." Weil er sich frage: "Wer macht diese Termine? Wir wollen ja unsere Leistung zeigen. Es ist schon anstrengend genug, egal wie die Wetterbedingungen sind. Ab 22 Grad hat man einen höheren Puls und läuft langsamer. Damals hat mich das schon ziemlich geärgert. Aber ich habe den Saisonplan dann so gelegt, dass ich mich mit dem warmen Wetter auseinandersetze."
Mannschaftsarzt unterstützt Petition
Die Rückendeckung des Deutschen Leichtathletik Verbands (DLV) ist den Athletinnen und Athleten sicher. DLV-Verbandsarzt Paul Schmidt-Hellinger (Bereiche Gehen/Laufen) spricht sich klar für eine Verschiebung des Starts aus. "Aus medizinischer Sicht kann man die Petition nur unterstützen. Wir sind als medizinisches Team dem Schutz der Athletinnen und Athleten verpflichtet. Grundlegend besteht bei hohen Temperaturen die Gefahr von Hitzeerkrankungen - von Hitzeerschöpfung, Hitzekrämpfen, Sonnenstich und Hitzschlag", erklärt er im RTL/ntv-Interview.
Als Arzt müsse er die "Athleten und Athletinnen schützen und der Sport soll auch eine Vorbildfunktion haben", sagt DLV-Arzt Schmidt-Hellinger. "Wir sind mit der EAA und dem LOC (Local Organizing Comittee, d. Red.) in Kontakt und haben uns mündlich und schriftlich dazu geäußert, darin steht eine klare Empfehlung, die Startzeiten möglichst nach vorne zu verschieben." Der Höchststand der Sonne wird am 15. August um 13:19 Uhr erreicht. "Genau dann, wenn man ins Ziel läuft und die Gefahr für Hitzeerkrankungen im Spurt am größten ist. Nicht nur die Startzeit, sondern auch die Zielzeit muss man berechnen. Es ist eine Zeit, bei der jeder Hausarzt sagt, man solle sich möglichst nicht belasten. Es gibt genügend Wissenschaft dazu. Mehr als Empfehlungen können wir als medizinisches Team nicht aussprechen."
Während Läufer und Ärzte also noch auf eine Verschiebung hoffen, bereiteten sie sich gleichzeitig auf die aktuelle Startzeit und erhöhte Temperaturen vor. "Wir stellen uns darauf ein, beschäftigen uns mit Kühlstrategien. Aber bei über 30 Grad ist es halt kein Spaß mehr", sagt EM-Starter Pfeiffer. Welche Möglichkeiten es für die Athleten gibt, trotz einer möglichen Hitze zu bestehen, erklärt Mediziner Schmidt-Hellinger. Die Kühlstrategien kann man in davor, während und danach einteilen. Zum Beispiel, indem man beim Erwärmen eine Kühlweste trägt, die Wasser verdunstet und gerade bei feuchter Hitze "mittels direkter Wärmeableitung durch Eis oder kaltes Wasser", so Schmidt-Hellinger.
Kühlung, Kühlung, Kühlung
Zudem haben die Athleten selbst ausgetüftelte Systeme, zum Beispiel wird in Mützenkonstruktionen Crushed Ice reingepackt - auch das wird dann im Training geübt. Besonders wichtig: Nach dem Zieleinlauf direkt runterkühlen, sich ins "Kühlbecken oder die Eistonne setzen", sagt Schmidt-Hellinger. Denn bei Hitze-Läufen drohen sonst schwere Konsequenzen, bis hin zum lebensgefährlichen Hitzschlag. Der entsteht, wenn die Körperkerntemperatur auf über 40 Grad steigt und sich dann erste Eiweißketten im Darm lösen, die dann eine Blutvergiftung auslösen können. Selbst Profi-Athleten sind davor nicht gefeit. DLV-Arzt Schmidt-Hellinger berichtet von einem Hitzschlag beim WM-Rennen der Frauen in Eugene - bei 17 Grad.
Einen Grenzwert, der sich in einer reinen Celsius-Temperatur bemisst, gibt es im Sport nicht. Bei Sportveranstaltungen wird ein Klimasummenmaß wie der WGBT-Index (wet-bulb globe temperature). herangezogen, erklärt Schmidt-Hellinger. Es ist vergleichbar mit der "gefühlten Temperatur". Darin wird alles mitgemessen: Lufttemperatur, Wind, Luftfeuchtigkeit und Sonneneinstrahlung - das Messgerät hat eine schwarze Metallkugel und nimmt jegliche Hitze auf, eine Wetterkugel. "Im Sport gilt hier der Grenzwert 27,5 Grad - auf die normale Celsius-Lufttemperatur im Schatten ist das aber schwer umzurechnen. Es entspricht circa 30 Grad und 35 Prozent Luftfeuchtigkeit."
Was geht sportlich?

Statt über einen Hitze-Index und Hitzefolgen würden die deutschen Starter lieber über das Sportliche reden. Denn bei der Heim-EM rechnen sie sich einiges aus - besonders in der Mannschaftswertung. "Ich glaube wir sind so stark aufgestellt wie nie zuvor im deutschen Marathon-Bereich und glaube, dass wir eine realistische Chance haben, um Medaillen mitzurennen. Die anderen Teams sind auch stark, Spanien, Israel und Frankreich habe ich da vor allem auf dem Schirm", sagt Pfeiffer (Bestzeit: 2:10:18).
Auch im Einzel ist ein Coup möglich. Der deutsche Rekordhalter Amanal Petros geht mit seiner Bestzeit von 2:06:27 als Mit-Favorit an die Startlinie. Auch Ringer (2:08:49) liegt mit seiner Zeit in der Top 10. "Da schielt man nach vorne", sagt er. "Ich habe schon zwei Medaillen geholt bei Europameisterschafen. Und ich habe noch was gutzumachen. In Berlin 2018 bin ich das erste und einzige Mal ausgestiegen über 10.000 Meter als Jahresschnellster. Es wäre ein Traum, wenn ich hier in der Heimat angreifen könnte." Die Träume, Ambitionen und die Spannung sind groß. Fast so spannend wie der Kampf um die Marathon-Medaillen aber bleibt das heiße Rennen um die Startzeit.