Eine der letzten Deutschen in Afghanistan
Weitermachen, so lange es geht
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von Christian Wilp und Andreas Kock
Afghanistan geht ungewissen Zeiten entgegen. Die Bundeswehr hat das Land schon verlassen, die Amerikaner folgen bis Ende des Monats. Nach 20 Jahren endet damit der Einsatz des Westens. Die Afghanen sind auf sich gestellt und alles deutet auf eine erneute Machtergreifung der islamistischen Taliban. Zu den wenigen Deutschen in Afghanistan zählt Dr. Ellinor Zeino, Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul.
Taliban auf dem Vormarsch
„In Kabul ist die Lage noch relativ ruhig, wir hatten schon schlimmere Zeiten“, sagt Zeino, die sich in einem aufgeräumten Büro in Kabul präsentiert, das in dieser Form auch in Berlin-Mitte stehen könnte. Bilder und Fähnchen sind geschmackvoll arrangiert, die Internet-Verbindung funktioniert stabil. „Wir leben aber in einer völligen politischen Ungewissheit, was in den nächsten Wochen und Monaten auf uns zukommen wird“, so Zeino im Gespräch mit dem RTL Frühstart.
Zu den Gewissheiten zählt, dass die Taliban in den Provinzen auf dem Vormarsch sind und inzwischen die Hälfte des Landes kontrollieren. Erst vor wenigen Tagen haben sie sich zu einem Anschlag im Zentrum Kabuls bekannt, dem zahlreiche Menschen zum Opfer fielen.
Stiftungsarbeit auf Sicht
In wieweit unter diesen Umständen noch Stiftungsarbeit möglich bleiben wird, kann auch Zeino nur vermuten. Solange die deutsche Botschaft vor Ort ist, gebe es auch eine gewisse Infrastruktur und Sicherheit. „Aber wir können nicht lange im Voraus planen. Wir sind schon in den letzten Jahren nur auf Sicht gefahren, und die Sicht wird immer kürzer.“
Offiziell verkündet die NATO, „weiterhin an der Seite Afghanistans zu stehen, um die Fortschritte der letzten 20 Jahre zu wahren“. Tatsächlich jedoch schwindet der Einfluss des Westens und reduziert sich, so Zeino, auf Finanzhilfen und Diplomatie. Die Nachbarstaaten stoßen in dieses Vakuum vor, China etwa hat erst kürzlich eine Delegation der Taliban freundlich empfangen. „Dabei geht es um die eigene Sicherheit, aber auch um ökonomische Interessen - für Handel, für Energierouten und Ressourcen.“
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Drohender Staatszerfall
Letzten Endes, sagt Zeino, versuchten alle Nachbarstaaten Afghanistans, strategische Kontakte zu den Taliban aufzubauen. Russland hege die Befürchtung, dass dschihadistische Gruppen, IS-Ableger und kriminelle Banden für Unruhen in den ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan und Usbekistan sorgen könnten und führe deshalb Manöver entlang der Grenze durch.
Das Problem ist, dass die Taliban, anders als selbst gern dargestellt, keine homogene Einheit bilden, sagt die Vertreterin der deutschen Stiftung. Insbesondere die jungen Kämpfer seien hasserfüllt und auf Rache aus. Das Land stehe an einem Wendepunkt. Zeino stellt nüchtern fest: „Es besteht das Risiko einer Fragmentierung des Landes - und von bürgerkriegsähnlichen Zuständen.“
Überraschte Elite
Der Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, hat den, wie er sagt, überstürzten Abzug der NATO kritisiert. Aber auch viele Afghanen sind enttäuscht, insbesondere von den Amerikanern. Man habe nicht damit gerechnet, sagt Zeino, dass die neugewählte Regierung Biden die Pläne von Trump übernimmt – und zwar „ohne nachzuverhandeln und ohne Bedingungen zu stellen.“
Somit falle die Bilanz des Einsatzes sehr gemischt aus. „Auf vielen Gebieten ist man deutlich unter den Erwartungen geblieben, etwa bei der Korruptionsbekämpfung oder der Befähigung der nationalen Kräfte, die Sicherheit zu garantieren“, sagt Zeino. „Viele Afghanen, vor allem auch die junge, städtische Mittelschicht, sieht aber auch Vorteile, die sie bekommen hat in den letzten 20 Jahren, etwa die politische Offenheit, die Debattenkultur, die Freiheiten.“
Ein politischer Mord während des Interviews
Die große Frage ist, wie diese Errungenschaften in Zukunft bewahrt werden können. Die Konrad-Adenauer-Stiftung Afghanistan, sagt deren Leiterin, will weitermachen „unter den Bedingungen, die wir haben.“ Aber diese Bedingungen können sich täglich ändern.
Kurz nach dem Interview schickt Ellinor Zeino per WhatsApp eine Nachricht. Dawa Khan Menapal, Direktor des Informationszentrums der afghanischen Regierung, ist in Kabul auf offener Straße erschossen worden. „Während unseres Gesprächs.“