„Die Krankheit nimmt einem jede Freiheit“Mutter kämpft gegen ALS: Mit diesen Symptomen fing es an

Sevgi May mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn.
Sevgi May mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Eine Diagnose stellte das Leben der kleinen Familie komplett auf den Kopf
privat
von Lauren Ramoser

Sevgi May weiß seit etwas über zwei Jahren: Sie hat ALS – eine neurologische Erkrankung, für die es noch keine Heilung gibt. Eine Diagnose, die alles verändert. Während unseres Gesprächs kommen ihr immer wieder die Tränen. Doch die Mutter eines kleinen Sohnes will kämpfen. Für sich, für ihren Sohn, aber auch für andere Betroffene. Mit beeindruckender Stärke erzählt die 46-Jährige von ihrem Alltag mit der tückischen Krankheit und davon, wie sie es schafft, nicht aufzugeben.

Sevgi May über den Beginn der Krankheit „Ich bin öfters gestolpert“

Alles begann mit kleinen Unsicherheiten beim Laufen. „Ich bin öfters gestolpert und habe mein Bein hinterhergezogen“, erinnert sich Sevgi May im Gespräch mit RTL. Zunächst habe sie gedacht, es sei eine Nachwirkung der Coronaimpfung. Doch im Juni 2021 stellen die Ärzte die Diagnose ALS. Weil sie immer wackeliger wird, läuft sie ab Mai 2022 mit Krücken. Fünf Monate später steigt sie auf den Rollator um, wieder ein halbes Jahr später braucht sie einen Rollstuhl.

„Die Krankheit nimmt einem jede Freiheit, die man sich vorstellen kann“, sagt Sevgi May und denkt dabei auch an kleine Alltagsmomente. „Etwa in die Bäckerei zu gehen und sich ein Brötchen zu holen. Oder mir selber Frühstück zu machen morgens.“ Wie schnell ALS voranschreiten wird, ist kaum vorhersehbar. „Man denkt abends beim Einschlafen immer drüber nach, was kommt als nächstes. Wird es schlimmer? Bleibt es so? Alleine die Angst macht einen wahnsinnig.“

Bei vielen Betroffenen ist der Verlauf der Erkrankung ähnlich. „Erst die Beine, dann die Arme, dann die Atmung, dann die Lunge“, zählt sie die Reihenfolge der fortschreitenden Lähmungen auf und stockt einen Moment. „Ich hoffe, dass das bei mir nicht alles kommt.“

Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine neurologische Erkrankung. Mit der Zeit werden die Nerven zerstört, die für die Bewegung der Muskeln verantwortlich sind. Warum ALS ausbricht, wissen Forscher noch nicht. In den meisten Fällen tritt die Krankheit bei Menschen zwischen 50 und 70 Jahren auf. Die Lebenserwartung ist bei vielen Betroffenen stark verkürzt, es gibt aber auch Ausnahmen wie den berühmten Physiker Stephen Hawking. Der Brite überlebte seine ALS-Diagnose um 55 Jahre. Darauf hofft auch Sevgi May.

Lese-Tipp: Gesundheitslexikon: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Im Video: Was hinter der seltenen Erkrankung ALS steckt

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Ihre Familie kämpft mit ihr: „Mama, kannst du wieder laufen?“

Mittlerweile hat sie gelernt mit den Einschränkungen zu leben. „Ich komme morgens die Treppe runter, weil ich die Stufen runterrutsche. Aber ich komme selbstständig nicht mehr hoch, weil die Angst, nach hinten zu stürzen, zu groß ist“, erzählt sie. Ihre Familie und enge Freunde helfen ihr, wann immer sie Hilfe braucht. Auch wenn es ihr schwer fällt, diese auch anzunehmen.

Sevgi May ist es wichtig, ihren Alltag möglichst normal zu leben – auch für ihren kleinen Sohn. „Er hilft mir viel. Zum Beispiel meine Schuhe auszuziehen. Oder kommt sofort, wenn mir etwas runterfällt.“ Für den knapp Vierjährigen sind die Einschränkungen seiner Mutter ganz normal, er kennt sie nicht anders. „Aber vieles versteht er auch noch nicht. Wenn ich manchmal ein oder zwei Schritte mit dem Rollator gehe, fragt er: Mama, kannst du wieder laufen?“ Das seien Momente, die sie sehr berührten.

Doch die 46-Jährige will nicht aufgeben, will ihren Alltag wie gewohnt leben. „Ich mache es, solange es geht. Mein Kopf funktioniert ja, es ist nur die körperliche Einschränkung.“ Ein wichtiger Punkt ist dabei ihre Arbeit. „Ich bin weiter berufstätig beim Deutschen Roten Kreuz, mein Arbeitgeber und meine Kollegen unterstützen mich alle.“ Sie habe extra ein neues, barrierefreies Büro bekommen und ein Fahrzeug, mit dem sie Zuhause abgeholt werden kann. Beruflich hilft die Aachenerin anderen Menschen, koordiniert in ihrem Job 18 Unterkünfte für Geflüchtete.

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Spenden-Kampagne soll einen Aufzug finanzieren - „Habe nur geheult“ vor Dankbarkeit

Doch mittlerweile braucht sie selbst Unterstützung – auch finanzielle. Eine enge Freundin hat daher eine GoFundMe-Kampagne für sie ins Leben gerufen. Das Ziel: das Haus der Familie so umzubauen, dass Sevgi May beide Etagen nutzen kann. Die Pflegeversicherung übernehme nur 4.000 Euro – allein der benötigte Aufzug kostet allerdings rund 45.000 Euro. „Wir könnten auch umziehen, aber hier ist unser Umfeld. Der Kleine wird von den Nachbarn mitgenommen zur Kita. Meine Nachbarn sind immer für mich da, wenn ich Hilfe brauche“, sagt sie dankbar.

Bis ihr Sohn vor dreieinhalb Jahren auf die Welt kam, hat sich die Aachenerin als Stadträtin politisch engagiert. „Ich war sehr aktiv, habe immer viel geholfen und jetzt müssen mir andere helfen. Das ist sehr beeindruckend für mich“, erzählt sie. Deswegen schaue sie auch nicht nach dem aktuellen Spendenstand der Kampagne. „Die ersten zwei Tage habe ich nur geheult, weil ich so gerührt über die Hilfe war“, erinnert sie sich. Mittlerweile sind rund 43.000 Euro zusammengekommen [Stand: 15.09.2023], viele für sie fremde Menschen hinterlassen aufmunternde Nachrichten unter dem emotionalen Text ihrer Freundin.

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Ihre mutige Geschichte soll helfen, eine ALS-Therapie zu finden

Mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit zu gehen, ist für Sevgi May kein leichter Schritt. „Ich wollte nicht, dass die anderen auch traurig sind“, sagt sie über die offenen Gespräche mit ihrer Familie und ihren Freunden. Doch sie will dafür kämpfen, dass die Erkrankung bekannter wird. Denn dadurch könnte es mehr Gelder für die Forschung geben, die hoffentlich eine Therapie finden wird.

Zwar gibt es ein Medikament, das den Verlauf vermutlich etwas verzögern könnte, doch noch ist ALS nicht heilbar. Daher will Sevgi May unbedingt zur Forschung beitragen. Sie fährt dafür alle drei Wochen in die Bonner Uniklinik, um an einer Studie teilzunehmen. „Selbst wenn es mir nichts mehr bringt, hoffe ich, dass es der Generation von Erkrankten nach mir hilft.“ Für sich selbst hat sie einen klaren Wunsch vor Augen: „Dass ich wieder laufen kann!“ Und dafür wird sie nicht aufhören zu kämpfen.