Justizskandal in Frankfurt

Mutmaßliche Gewaltverbrecher wieder auf freiem Fuß - weil das Gericht überlastet ist!

Sie sollen mit Stöcken auf ihre beiden Opfer geschlagen und sie mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt haben: Am 3. Juli 2021 kommt es zu dem Angriff durch vier Männer am Bahnhof Frankfurt-Höchst. Alle werden kurz darauf festgenommen – doch die Untersuchungshaft wurde nun beendet. Ohne Prozess sind die mutmaßlichen Gewaltverbrecher wieder auf freiem Fuß – weil das Oberlandesgericht Frankfurt nach eigener Aussage „strukturell überlastet“ sei. Keine Zeit, sich um die Bestrafung der Täter und die Sicherheit der Bürger zu kümmern – wie kann das sein?

Landgericht war zu langsam

Zu viel zu tun und zu wenig Leute für die Aufgaben – das ist derzeit offensichtlich auch beim Landgericht Frankfurt der Fall. Die „Überlastung mit zahlreichen Haftsachen“ sei „auch bei nahezu täglicher Verhandlung nicht mehr zu bewältigen“, heißt es von offizieller Stelle durch das Oberlandesgerichts Frankfurt. Doch hier hat ein „Nicht-Bewältigen-Können der Arbeit“ schnell ungeahnte Dimensionen und hat Folgen, die aufhorchen lassen: Vermeintliche Straftäter und damit Angeklagte – und davon insgesamt sechs – werden aus der U-Haft freigelassen, weil das Landgericht die Verfahren „nicht mit der gebotenen Schnelligkeit bearbeiten konnte“, so Hessens Justizminister Roman Poseck.

Nach der Freilassung der mutmaßlichen Gewaltverbrecher muss sich Hessens Justizminister Roman Poseck vielen Fragen stellen - hier im Interview mit RTL-Reporter Alexander Polte.
Nach der Freilassung der mutmaßlichen Gewaltverbrecher muss sich Hessens neuer Justizminister Roman Poseck (li.) vielen Fragen stellen - hier im Interview mit RTL-Reporter Alexander Polte.
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Inhaftierte profitieren von Mangel-Zuständen bei der Justiz

„Das ist in jedem Fall ein ärgerlicher Vorgang“, bedauert der CDU-Politiker im RTL-Interview. Das OLG habe entscheiden, die Haftbefehle nicht länger aufrecht zu erhalten, weil die verfassungsrechtlich festgelegte Beschleunigung bei Haftsachen nicht eingehalten werden konnte, erklärt Poseck. Zudem gelte für die betroffenen sechs Angeklagten trotz allem noch die Unschuldsvermutung. Dass das Gericht zu langsam war für einen Prozess, kam den seit mehreren Monaten inhaftierten Männern also zugute und sie wurden ohne Prozess freigelassen.

Eine „Entlastung der betroffenen Kammern in Frankfurt“ sei geschehen, der Justizminister kündigt auf RTL-Nachfrage eine „erhebliche personelle Verbesserung bei Gerichten in Hessen“ an. Zusätzliche Richterstellen seien im Haushaltsplan für das Land vorgesehen, damit diese Fälle sich nicht wiederholen.

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Opposition: Es ist ein "Skandal mit Ansage"!

Andreas Arnold
Marion Schardt-Sauer (FDP), Abgeordnete in Hessen, übt harte Kritik an den Zuständen bei Hessens Gerichten. Foto: Andreas Arnold/dpa/Archiv
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Doch das Bedauern des Justizministers und die Versprechungen nach dem „ärgerlichen Vorgang“ reicht vielen nicht: Die Opposition hält die Konsequenz, die das Gericht aus der Überlastung gezogen hat, für ein Unding. Marion Schardt-Sauer, justizpolitische Sprecherin der hessischen FDP, betonte in einer Mitteilung: „Die Überlastung der Justiz und die daraus resultierende Verfahrensdauer sind ein lange bekanntes Problem, das der neue Justizminister von seiner Vorgängerin geerbt hat. Er ist jetzt in der Pflicht, die schleichende Abrüstung des Rechtsstaats zu stoppen und umzukehren, damit nicht noch weitere mutmaßliche Verbrecher frei herumlaufen.“ Die Freilassung der Männer sei „ein Skandal mit Ansage“, so Marion Schardt-Sauer.

Der neue Justizminister Poseck müsse jetzt vom „Ankündigungsmodus in den Angriffsmodus“ übergehen, fordert die FDP-Politikerin im RTL-Interview. Seine Vorgängerin Eva Kühne-Hörmann habe die Klagen der hessischen Justiz über zu hohe Belastung jahrelang ignoriert, sie sei für die derzeitigen Zustände verantwortlich.

Unterstützung bekommt die FDP auch von der SPD: Roman Poseck (CDU) habe bei seinem Amtsantritt versprochen, dass alles besser werde, sagte der Fraktionsvorsitzende der SPD im hessischen Landtag, Günter Rudolph. “Ist es für die hessischen Bürgerinnen und Bürger gut, dass mutmaßliche Gewaltverbrecher frei herumlaufen?“

Weißer Ring: Für die Opfer ist es eine erneute Strafe

Dass die sechs Männer in Hessen freigelassen wurden, sei laut Marion Schardt-Sauer von der FDP „ganz schlimm für die Opfer“. Als „ein fürchterliches Signal für die Opfer“ definiert es Geert Mackenroth, Vorstand des sächsischen Weißen Rings. Sie könnten dadurch retraumatisiert werden und den Gedanken bekommen: „Der Staat hat sich wieder einmal nicht um uns gekümmert. Alles dreht sich nur um den Täter. (...) Für jedes Opfer ist das nochmal wieder eine richtige Strafe“, so Mackenroth.

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Niemand dürfe länger als sechs Monate in Untersuchungshaft bleiben, das sei Fakt. Aber bei solchen Fällen wie dem am Frankfurter Landgericht sei laut Weißen Ring einfach zu wenig Personal vorhanden gewesen oder schlicht und ergreifend „geschlampt“ worden. „Personalmangel ist jedoch kein Grund, die Täter nicht zu bestrafen und die Opfer nicht zu schützen“, warnt Mackenroth.

Geert Mackenroth, Vorstand des Opferschutzvereins Weißer Ring, warnt die Justiz davor, sich "Schlampereien" zu leisten.
Geert Mackenroth, Vorstand des Opferschutzvereins Weißer Ring, warnt die Justiz davor, sich auf Kosten der Opfer von Gewalttaten "Schlampereien" zu leisten.
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Die Freilassungen senden ein fatales Signal an die Opfer. Im Interview mit unserer RTL-Reporterin skizziert der Landesvorsitzende des Weißen Rings in Sachsen: „Stellen Sie sich mal vor, Sie werden Opfer einer Vergewaltigung und dann sehen Sie den Täter nach einem halben Jahr auf der anderen Straßenseite. (...) Unabhängig davon, dass Sie weiter Angst haben, denken Sie: Der Staat kümmert sich um die Täter und lässt die Opfer links liegen.“ Die Betroffenen sollten sich nun an Polizei, einen Anwalt und Opferschützer wie beim Weißen Ring wenden.

Frankfurt ist kein Einzelfall

Geert Mackenroth bestätigt im RTL-Interview, dass es zahlreiche Fälle von Freilassungen aufgrund von Fehlplanungen bei der Justiz gebe. Baden-Württemberg und Sachsen seien dabei führend. „Jeder dieser Fälle ist ein schlechter Fall, weil er nachweist, dass die Justiz nicht in der Lage ist, die Fälle ordnungsgemäß in vorgegebener Zeit abzuarbeiten.“

In den vergangenen fünf Jahren wurden den Recherchen zufolge deutschlandweit fast 300 Tatverdächtige wegen Verletzung des sogenannten Beschleunigungsgebots in Haftsachen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Gebot besagt, dass die Justiz alles tun muss, um das Hauptverfahren möglichst schnell zu beginnen. (apo/lre/gmö/dpa)