Wie sich der Krieg in der Ukraine durch das Literaturfestival zieht
Die lit.COLOGNE 2022 und die hellseherische Kraft von Schriftstellern

Schriftstellerinnen und Schriftsteller hätten die Fähigkeit, mit ihren Beobachtungen der Gegenwart die Zukunft vorauszusagen, sagt „Spiegel“-Autorin Susanne Beyer, die durch den Eröffnungsabend der diesjährigen lit.COLOGNE führt - eine Solidaritätsveranstaltung mit der Ukraine. Die Gäste des größten Literaturfestivals Europas, das 2022 erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie wieder vor Publikum stattfand, nutzten in der vergangenen Festivalwoche viele Veranstaltungen, um mit den Worten vergangener oder aktuell erscheinender Bücher den Angriffskrieg auf die Ukraine zu kommentieren.
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Putins Rhetorik habe schon vorher gezeigt, „dass dieser Krieg unvermeidlich kommen würde“
Schriftsteller als eine Art Hellseher - damit meint Susanne Beyer unter anderem ihren Gast, Autor Navid Kermani, der bei der Veranstaltung „Nein zum Krieg“ am 15. März aus seinem Buch „Entlang der Gräben“ aus einer Unterhaltung vorliest, die er bereits 2016 in der Ukraine geführt habe. „Da hielt ein Ukrainer afghanischer Herkunft einem Iraner, der in Deutschland lebt, auf Persisch eine flammende Rede über die Bedeutung des europäischen Gedankens“, so Kermani über das Gespräch mit dem ukrainischen Politiker und Aktivisten Mustafa Najjem, dessen Facebook-Post im Jahr 2013 einer der Auslöser der Euromaidan-Proteste war.
Der Krieg, so auch der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko, der bei der Solidaritätsveranstaltung ebenfalls zu Gast ist, sei absehbar gewesen – man hätte nur Putins Rhetorik auf „Russia Today“ ernstnehmen müssen. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die den Abend mit einem Grußwort eröffnet, hat die Idee, Putin „viele Bücher“ zu schicken. Der Wunsch scheint also groß, mit Aufklärung, Literatur und der Superkraft der Vorhersehung von Schriftstellern Situationen wie den Angriffskrieg in der Ukraine vermeiden zu können – oder zumindest besser zu verstehen, was dadurch auf uns alle zukommen könnte. Und so zieht sich der Krieg in Europa nicht nur durch die kurzfristig noch organisierte Solidaritätsveranstaltung (deren Ticketeinnahmen übrigens zu 100 Prozent gespendet wurden – in gleichen Teilen an das PEN-Zentrum und den deutsch-ukrainischen Verein Blau-Gelbes Kreuz), sondern ist auf vielen Veranstaltungen der 22. lit.COLOGNE Thema.
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„Russland hat den Rückwärtsgang ins 19. Jahrhundert eingelegt“
Joschka Fischer, der eigentlich sein Buch „Zeitenbruch“ zur globalen Klimakrise vorstellen sollte, analysiert stattdessen mit seinem Hintergrund als ehemaliger Außenminister Fragen wie eine militärische Beteiligung der NATO, den sofortigen Importstopp von russischem Gas und Öl sowie die Milliarden-Investitionen in die Bundeswehr. Mit seinem Handeln zerstöre Putin nicht nur die Ukraine, sondern auch sein eigenes Land, so Fischer. Zu den Beweggründen Putins sagt er, dass dieser „den Rückwärtsgang“ eingelegt habe, indem er sich an militärischer und territorialer Größe orientiere. „Das waren die entscheidenden Kategorien der Definition von Macht im 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert zählt an erster Stelle Technologie.“ China habe das begriffen und sei „mit Vollgas im 21. Jahrhundert unterwegs“. Den Kreis zur Klimakrise schließt Fischer trotzdem, indem er zu bedenken gibt, dass dieser Kampf ein globaler sein wird, der deswegen u. a. die Zusammenarbeit mit China erfordert.
„Putin ist ein Faschist“

Auch Journalist und Buchautor Thomas Hüetlin schlägt den Bogen von seinem Buch über die Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau als Beginn des rechten Terrors zum Ukraine-Krieg. Im Gespräch mit Grünen-Politiker Cem Özdemir nennt er Putin einen Faschisten, dessen klarer Feind die EU sei. In der Vergangenheit habe er deswegen den Brexit und Trump unterstützt, um die Europäische Union zu destabilisieren. Özdemir merkt an, dass es schon lange Zeichen für die aktuelle Eskalation gegeben, die (westliche) Politik allerdings nicht reagiert habe. „Wir haben lange geschlafen. Nun zahlen wir und vor allem die Menschen in der Ukraine den Preis dafür“.
Die Frage, warum das Schicksal der Menschen in der Ukraine uns jetzt so nah geht, während „in anderen Ländern auch Krieg [ist]“, stellt Tobias Schlegl, der im Buch „See.Not.Rettung“ seine Erfahrungen an Bord der „Sea-Eye 4“ vor der Küste Libyens verarbeitet. Kritisch sagt er: „Wenn es hellhäutige Menschen wären, würde das so nicht passieren.“
Bücher können aber noch mehr
Es ist ein Thema, das uns beschäftigt. Am Esstisch mit der Familie, beim Treffen mit Freunden, sogar beim Smalltalk kommt der Krieg in der Ukraine derzeit sicher häufig auf – häufiger jedenfalls, als es bei anderen Konflikten in den letzten Jahren der Fall war. Autoren, Journalisten und Betroffene, die ihre Erlebnisse für uns in Worte fassen, tragen dazu bei, dass Europa im Angesicht der schrecklichen Ereignisse zusammenrückt. Dennoch sollten wir die andere Kraft von Büchern nicht vergessen: Dass sie uns helfen können, die schlimme Realität hinter uns zu lassen und in eine bessere Welt abzutauchen – zumindest für ein paar Stunden. Und das ist in diesen Tagen mindestens ebenso wichtig!
Die lit.COLOGNE 2022 findet noch bis zum 26. März in Köln statt. Mehr zum Programm hier.