Die Karriere des Sebastian Vettel

Ein wilder Himmelsstürmer mit einem Makel

Sebastian Vettel: Zwischen Red-Bull-Jubel und Ferrari-Frust.
Sebastian Vettel: Zwischen Red-Bull-Jubel und Ferrari-Frust.
RTL Collage
von Emmanuel Schneider

Jung, wild, erfolgreich – so startet Sebastian Vettel 2006 in die Formel 1. Nach einer schnellen Beförderung zu Red Bull dominiert er die Motorsport-Königsklasse jahrelang. Dabei gewinnt er aber nicht die Herzen aller Fans. Ein großer Traum bleibt unerfüllt.

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Dass hier ein Edel-Talent massiv in die Formel 1 drängt, wird 2006 schon beim 1. Training in der Türkei offensichtlich. Der erst 19-jährige Sebastian Vettel bekommt beim Team BMW Sauber die Chance, in einem Freitagstraining F1-Erfahrung zu sammeln. Und siehe da: Der Youngster fährt am ersten Tag sogar sensationell die Bestzeit – vor Legenden wie Michael Schumacher. Gleichzeitig kassiert er auch die schnellste Strafe überhaupt, weil er in der Boxengasse zu schnell ist. Vettel ist also von Anfang an ein Rekord-Mann.

Für seinen ersten Rennstart in der Motorsport-Königsklasse muss sich Vettel noch ein Jahr gedulden. 2007 crasht Robert Kubica im BMW Sauber heftig in Kanada. Vettel darf als Ersatzfahrer ran und sich in Indianapolis beweisen. Ergebnis: Als Achter fährt er in die Punkte – zu diesem Zeitpunkt als jüngster Pilot der F1-Geschichte. Spätestens jetzt ist klar: Hier fährt ein potentieller Star. Red Bull schlägt zu, setzt den 20-Jährigen ab dem Ungarn-Rennen in den Wagen des Schwesterteams Toro Rosso.

Der Paukenschlag von Monza

Beide Rennställe sind noch nicht etabliert, streben aber nach oben. Während Vettel in den ersten fünf Rennen 2008, seiner ersten kompletten Saison, mit einem alten Renner fahren muss, gelingen ab Monaco die ersten Erfolge. Der Durchbruch erfolgt dann im September in Monza. Es ist die Geburtsstunde des „Regengottes“ Vettel.

In seinem unterlegenen Toro Rosso rast er bei Niederschlag zur ersten Pole für das Team überhaupt. Tags darauf im Rennen werden ihm nur sehr geringe Chancen eingeräumt, vorne zu bleiben. Im Regen Italiens verteidigt Vettel die Führung aber eisern und holt den ersten Sieg – erneut als jüngster Fahrer der Geschichte zu diesem Zeitpunkt. Erstmals sehen Millionen vor den TV-Geräten den Vettel Jubel-Finger und sein charakteristisches Lächeln.

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Vettel gelingt ein echter Coup, denn Toro Rosso feiert damit vor dem Schwesterteam Red Bull die erste Pole und einen Sieg. Der Vettel-Hype erwacht und wächst. Er ist „The next big thing“. Die Beförderung zum A-Team ist die logische Konsequenz. Da sitzt er also, gesegnet mit Talent, Wille und Ehrgeiz – in einem Auto, das Potential hat, regelmäßig aufs Podium zu fahren. Das gelingt auch 2009 immer wieder, doch Ross Brawn und seine geniale Doppel-Diffusor-Idee lassen Red Bull und Co. noch alt aussehen. Jenson Button sichert sich für Brawn-GP ein Rennen vor Saisonende den Titel. Vettel wird wird Zweiter.

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Video: Kommt Vettel in ein paar Jahren zurück?

Das irre Finale von 2010 eröffnet eine neue Ära

Doch seine Zeit ist jetzt gekommen. Er überschreitet die Schwelle zum Superstar. Denn 2010 gelingt ihm das Unfassbare: Erst nach dem allerletzten Rennen führt er erstmals die WM-Gesamtwertung an. Eben dann, wenn es darauf ankommt. „Crunchtime Vettel“ betritt die Bühne. Das Finale von Abu Dhabi ist eines der spannendsten der Formel-1-Historie. Ganze 15 Punkte liegt Vettel hinter dem Führenden und Favoriten Fernando Alonso und sieben hinter Teamkollege Mark Webber. Auch Lewis Hamilton hat noch Titel-Chancen. Doch es sieht alles nach einer Ferrari-Party aus.

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Aber es kommt anders. Vettel startet von der Pole, dominiert das Rennen von vorne. Safety-Car-Phasen zerschießen die Strategie der anderen Teams, vor allem von Ferrari. Alonso hängt hinter dem Russen Witali Petrow fest. Egal, was er probiert, er perlt an dem Renault-Mann ab. Verpasst so sie bitter nötigen Zähler. Vettel überquert als Erster die Ziellinie. Am Funk wird er über den Schlussakt informiert. „Guter Job, aber wir müssen warten. Hamilton P2, Button P3, Rosberg P4, Kubica P5.“ Vettel zittert im Auto. Dann der legendäre Satz auf Deutsch: „Du bist Weltmeister“.

Vettel kann es kaum glauben, wirft die Arme vor seinem Helm und schluchzt kaum hörbar. „Danke, Jungs. Unglaublich.“ Vettel stellt wieder mal einen Rekord auf – ist mit 23 Jahren der jüngste Weltmeister der Geschichte. Bis heute unerreicht.

Brutale Dominanz

Es ist der Beginn der Vettel-Ära. Sie ist geprägt von der Dominanz, von einem brutal starken Bullen-Auto. Die RB6 bis RB9 sind außergewöhnliche Wagen, echte Waffen. Die V8-Renner mit Renault-Antrieb sind immer die schnellsten oder mit die schnellsten im Feld. Auch dank seines Teams und genialen Ingenieuren wie Adrian Newey steht Vettel vier Mal ganz oben.

2011 braucht es kein Herzschlagfinale, Vettel führt nach jedem Rennen die WM-Wertung an. 2012 aber ist ein kleines Revival vom ersten Titel. Im letzten Rennen in Brasilien startet er nicht nur aus schlechter Position (vier), sondern dreht sich auch gleich zu Beginn. Von ganz hinten pflügt er sich im Slalom an Freund und Feind vorbei. „Clutch-Vettel“ ist zurück. Hinter dem Safety-Car bringt er die Aufholjagd nach Hause, der sechste Platz reicht. Wieder ist Alonso geschlagen. In jenem Rennen ist offenbar auch die Rivalität zu seinem Teamkollegen Mark Webber entstanden. Dazu gleich mehr.

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Im Jahr darauf folgt ein weiterer Eintrag in die Geschichtsbücher. Denn Vettel stürmt mit neun Siegen in Folge zum vierten Titel. Ein Rekord. Es ist die maximale Dominanz. Wie einst Michael Schumacher. Nie gab es einen stärkeren Vettel im Red Bull. Er ist, na klar, der jüngste Seriensieger aller Zeiten.

Video: Die Bilder einer großen Karriere

Die Bullen-Fehde Vettel vs. Webber

Trotzdem fliegen ihm nicht nur die Herzen zu. Wer immer gewinnt, der langweilt auch die Fans. Mehrmals wird Vettel auf dem Podium ausgebuht. Dabei spielt auch sein Auftreten auf der Strecke eine entscheidende Rolle. Vettel kommt oft als Ehrgeizling rüber. Einer, der auch mal Grenzen überschreitet. Er ist eben aus Holz geschnitzt, das einem zum Champion macht.

Schon 2010 crasht er in Istanbul mit Stallkollegen Webber, obwohl das Bullen-Doppelpack komfortabel führt. 2013 dann die Eskalation. Der Australier führt in Malaysia vor Vettel. Das Team gibt die klare Anweisung: „Multi 21“. Heißt: Webber soll vor Vettel bleiben. Doch der Deutsche sucht den Zweikampf mit dem Garagennachbarn, zieht vorbei und siegt. Nicht die feine Art, aber er sei halt „der Schnellere gewesen“, so Vettel, der sich anschließend auch entschuldigt. Es sind solche Szenen, die Vettel dem Ruf des Heißsporns einbringen. RB-Teamchef Christian Horner verriet jüngst, dass Vettel noch auf Webber sauer gewesen sei, weil er ihm im Finale 2012 den Weg versperrt und somit fast den Titel gekostet hätte.

Was damals noch keiner ahnt: 2013 wird sein letzter WM-Titel bleiben. Ein neuer Stern am F1-Himmel geht auf. Ausgerechnet Michael Schumacher schob mit seinem Wissen und seiner Erfahrung den Start von Mercedes ins neue Jahrzehnt an. Die Ära der V6-Hybridmotoren beginnt. Die Bullen schwächeln plötzlich, Mercedes ist der neue Platzhirsch. 2014 landet Vettel erstmals hinter seinem Teamkollegen – dem Australier Daniel Ricciardo. Dessen Landsmann Webber hatte nach 2013 genug von Vettel und der F1.

Eine Option im Vertrag ermöglicht Vettel einen Wechsel – er erfüllt sich einen Kindheitstraum und geht fortan für Ferrari an den Start – so wie sein Kindheitsheld und Idol Michael Schumacher, der mit der Scuderia fünf Titel in Serie holte.

Vettel scheitert an und mit Ferrari

Vettel kommt als viermaliger Champion in seiner Prime. Ferrari war (und ist immer noch) seit 2007 ohne Fahrertitel, seit 2008 ohne Konstrukteurstitel. Die Tifosi gieren nach Erfolgen. Der spitzbübische Vettel mit dem Finger-Jubel sollte sie ihnen endlich bescheren.

Es passiert, was so oft bei der Scuderia passiert. Ein irgendwie einzigartiger Mix aus zu hohen Ambitionen, Ferrari-Fehlern in Strategie und Technik sowie Fahrer-Patzern bremsen das Team und Vettel aus. Auch hier zeigt sich noch der Überehrgeiz von Vettel. Beispielsweise als er Hamilton 2017 in Baku rammt. Ein Eklat. Die Freundschaft der beiden leidet aber nur temporär.

Nur 2017 und 2018 wird Vettel in Rot dem neuen Dominator Hamilton gefährlich. Vor allem 2018 sieht es lange Zeit gut aus. Der deutsche Pilot führt bis zum Rennen in Deutschland die WM an. Dort zerstört er in Führung liegend sein Rennen - und in gewisser Weise auch die Weltmeisterschaft: Vettel rutscht in den Kies. Nach der Sommerpause kommt Vettel nicht zurück.

Es war die letzte realistische Chance auf einen Titel. Denn in den folgenden zwei Jahren fährt Vettel hoffnungslos hinterher, musste sich sogar dem neuen Kronprinzen bei den Roten, Charles Leclerc, geschlagen geben. 2020 endet die Zusammenarbeit mit den Roten unschön. Das Kapitel ist beendet.

Den großen Traum, in die Fußstapfen von Schumacher zu treten, mit Ferrari und den frenetischen Tifosi einen Titel nach Italien zu bringen, er zerschellt an Mercedes und an Ferrari selbst. Vielleicht waren die Fußstapfen dann doch eine Nummer zu groß. Wer kann schon eine Weltmarke und Legende wie Schumi eins zu eins ersetzen?

Aston Martins Ambtionen verpuffen

Vettel zieht weiter. Im Kopf wohl die ersten Gedanken an ein baldiges Karriereende. Doch ein Projekt will er noch vorantreiben. Der britische Autobauer Aston Martin übernimmt 2021 Racing Point und findet in Vettel das gewünschten Zugpferd mit einem glamourösen Namen. Das Team hat große Ambitionen – ein Titel bis 2025 soll es sein – doch die Realität heißt bis heute: hinteres Mittelfeld. Wenn es gut läuft, gibt‘s mal Punkte. Einmal sogar ein Podium.

An schlechten Tagen aber auch: ein letzter Platz wie in Österreich. Ein Tiefpunkt, wie Vater Norbert erklärte. Ehrgeizling Vettel und seine Ambitionen eingequetscht in ein Auto ohne Potential. Zu wenig. Die Zweifel wachsen. Und nicht nur die. Vettels Familie wurde in den vergangenen Jahren größer, der Wunsch nach mehr Zeit mit ihr ebenso. Der eiskalte Racer hat sich inzwischen zu einem Mahner, zum Gewissen der Formel entwickelt. Er macht mit unterschiedlichen Aktionen auf gesellschaftspolitische Themen aufmerksam. Er hat eine neue Rolle gefunden – neben der des Fahrers.

Vettel wird die Formel 1 als Ikone verlassen. Und trotz der Aston-Martin-Enttäuschung und des Ferrari-Ärgers ist das Gute: Die Misserfolge werden verblassen. Einen wie Vettel zwischen 2008 und 2013 gibt es nicht alle Tage. Erinnern werden sich die Fans für immer auch an den jungen wilden Vettel, der die Königsklasse im Sturm eroberte und jahrelang brutal dominierte. Mit einem spitzbübischen Lachen und dem Finger-Jubel.