Jeff Tomlinsons Versteckspiel blieb zwei Jahre unbemerktZwei Sehnervinfarkte! Eishockey-Trainer coachte Team fast blind

Er sah nicht einmal mehr die Gesichter seiner Spieler.
Eishockey-Trainer Jeff Tomlinson (55) ist nach zwei Sehnervinfarkten in den Jahren 2020 und 2021 fast blind. Doch der Deutsch-Kanadier verheimlicht sein Handicap, macht noch zweieinhalb Jahre weiter – und coacht den Schweizer Klub EHC Kloten zum Aufstieg. Erst 2023 muss er sich eingestehen, dass es nicht mehr geht. Im September macht er seine Krankheit im Buch „Blindes Vertrauen” öffentlich.
Jeff Tomlinson tat so, als würde er Leute erkennen
„Sie wussten zwar: Ich habe Probleme mit den Augen. Aber nicht, dass ich noch nicht einmal mehr ihre Gesichter erkennen konnte”, erzählt Tomlinson im Gespräch mit Stern. „Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte nicht, dass die Leute sagen: ,Gar nicht mal schlecht für einen Blinden.’ Ich wollte als normaler Trainer gesehen werden.”
Nicht die Wahrheit zu sagen, sei für ihn „das schlimmste Gefühl überhaupt” gewesen, berichtet der 55-Jährige. „Ich ekelte mich richtig, so zu tun, als würde ich Leute erkennen – obwohl ich überhaupt keinen Plan hatte, wer sie waren. Aber ich tat es, um mich zu schützen. Ich wollte unbedingt weitermachen.”

Tomlinson spielt einige Jahre in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) und trainiert nach seiner aktiven Zeit unter anderem die Eisbären Berlin und die Düsseldorfer EG. Dann geht er zum Schweizer Zweitligisten SC Rapperswil-Jona Lakers und schafft schnell den Aufstieg. Im Jahr 2021 wird der Deutsch-Kanadier – durch seine Krankheit schon stark gehandicapt – neuer Cheftrainer des in der Zweiten Liga spielenden EHC Kloten. Ein Jahr später führt er den Klub in die höchste Schweizer Spielklasse.
Sehnervinfarkt vor dem Fernseher: „Fuck, ich werde blind!”
Den ersten Sehnervinfarkt erleidet Jeff Tomlinson 2020 auf der rechten Seite. „Ich saß vor dem Fernseher und sah plötzlich einen Teil des Bildschirms nicht mehr”, erinnert er sich. „Als ich zum Augenarzt ging, konnte ich die Angst in seinem Gesicht erkennen. Er schickte mich sofort in die Uniklinik Zürich. Aber auch dort konnten sie mir nicht mehr helfen.”
Er habe nur seiner Frau davon erzählt und sich zunächst keine Sorgen gemacht. „Ich hatte ja noch ein gesundes Auge.” Doch ein Jahr später widerfährt dem Eishockey-Coach dasselbe auf der linken Seite. „Wieder saß ich vor dem Fernseher. Ich bekam Panik. Ich brauchte keine Diagnose mehr. Ich wusste in diesem Moment: Fuck, ich werde blind!”
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Nur die Assistenztrainer wussten, dass der Coach fast blind ist
Die Playoffs um die Meisterschaft stehen bevor, Tomlinson weiht nur seine Assistenztrainer ein. „Wir wussten: Ich konnte mit dem Team nicht an den Feinheiten unseres Spielsystems arbeiten.” Dem Erfolg schadet das nicht: Rapperswil schafft es 2021 bis ins Halbfinale der Schweizer Meisterschaft.
Schon vor der Schockdiagnose hat Tomlinson einen Vertrag beim EHC Kloten unterschrieben, den er ab der folgenden Saison coachen soll. „Ich erklärte dem damaligen Sportlichen Leiter in Kloten die Lage und sagte: ,Ich bin blind! Ich kann nicht coachen!’”, erzählt der 55-Jährige. „An seiner Reaktion merkte ich, dass er nicht verstand, wie schlimm es wirklich ist. Sie vertrauten mir.”
Eishockey-Trainer sah auf dem Spielfeld nur Umrisse
Es sei „eine sehr dunkle Zeit” gewesen, erzählt der Eishockey-Trainer dem Stern. „Ich konnte nicht als Invalide auf der Couch liegen. Ich brauchte einfach eine Aufgabe. Ein Eishockeyteam ist wie ein Kartenhaus. Und ich wollte das Kartenhaus managen, wollte aufpassen, dass es nicht zusammenfällt.”
Geschickt verheimlicht er seine Krankheit vor den Spielern – immer mit der Angst im Nacken, erwischt zu werden. Auf dem Spielfeld sieht der Coach nur Umrisse. „Meine Welt ist dunkel und wolkig. Als würde ich ständig in einen beschlagenen Badezimmerspiegel schauen.”
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Nur einmal wäre Jeff Tomlinson fast aufgeflogen
Auf seinem linken Auge hat Tomlinson noch fünf Prozent seiner Sehkraft, auf dem rechten etwas mehr. Um seinen Job weitermachen zu können, entwickelt er spezielle Strategien: Er prägt sich den Laufstil seine Spieler ein und lernt die Sitzordnung in der Kabine auswendig. Die Co-Trainer werden seine wichtigste Sehhilfe und unterstützen den Coach, wo sie können – sogar im Alltag.
Nur einmal fliegt er beinahe auf, als ein Sportmanager einem gegnerischen Trainer von Tomlinsons Problemen erzählt. „Aus irgendeinem Grund ist er dann zu einem Schweizer Journalisten gerannt. Doch der schützte mich Gott sei Dank und hat die Story nicht veröffentlicht. Dass die Sache nie rauskam, ist für mich der größte Erfolg meiner ganzen Karriere. Darauf bin ich mehr stolz als auf jeden Titel.”
Jeff Tomlinson erzählt im Buch „Blindes Vertrauen” seine Geschichte
Trotz der sportlichen Erfolge – vor allem dem Erstligaaufstieg 2022 – hört Jeff Tomlinson 2023 auf. „Es wurde einfach alles zu viel. Ich wollte den besten Job machen, obwohl ich es einfach nicht konnte. Ich konnte den Spielern kein direktes Feedback mehr geben. Alles, was ich machte, kostete mehr Kraft.”
Erst weitere zwei Jahre später erfährt die Öffentlichkeit im Buch „Blindes Vertrauen” von seiner Krankheit und dem jahrelangen Versteckspiel. „Ich bin befreit. Ich muss mich nicht verstecken”, sagt der 55-Jährige dem Stern. „Und auch die anderen Leute, die ich in meine Schauspielerei mit reingezogen habe, die mich all die Jahre geschützt und mein Geheimnis gewahrt haben, die müssen jetzt auch nicht mehr lügen.”
Mitleid will er nicht und verzichtet deshalb auf einen Blindenstock. „ Ich will auf der Straße nicht als Blinder gesehen werden. Mir geht es gut, so wie es ist.” Dem Eishockey ist Tomlinson treu geblieben: Er arbeitet weiterhin als Berater für den EHC Kloten.
Verwendete Quellen: Stern, Welt, Blick