Weil Ärzte nur noch im OP stehen, statt Diagnosen zu stellen?

„Sie hätte zu Hause still und heimlich sterben können!” Seniorin wird trotz Hirnblutung entlassen

Hände fest drücken und mit einem Finger die Nase berühren.
Weil Elisabeth Reichenbach* (80) bei diesen Tests keine Auffälligkeiten zu zeigen scheint, wird sie offenbar von einem Medizinstudenten im Praktischen Jahr aus der Charité Berlin entlassen. Durchgeführt hatte die Tests nach Recherchen unserer Reporter ein Medizinstudent im Praktischen Jahr. Die Entlassung war ein fataler Fehler, wie sich später zeigt. Nur wenige Stunden später ist die Seniorin erneut in der Notaufnahme - mit Verdacht auf Hirnblutung! Wie kann solch eine Fehldiagnose passieren? Und wo war der diensthabende Arzt?

Wie viel Verantwortung kann ein Medizinstudent tragen?

Bei ihrem Undercover-Einsatz für stern Investigativ kann Reporterin Lisa beobachten, wie viel Verantwortung Medizinstudenten in der Charité Berlin teilweise tragen müssen. Sie lernt Frau Reichenbach kennen, die mit einer Hirnblutung auf der Neurologie des Krankenhauses liegt. Das Fatale: Die ältere Dame ist schon zum zweiten Mal an einem Tag da, denn sie wurde zunächst wieder nach Hause geschickt - nachdem ein Medizinstudent im Praktischen Jahr sie untersucht hat. Ausgebildete Ärzte sind diese im sogenannten PJ noch nicht, ähnliche Verantwortung scheint ihnen teilweise dennoch übertragen zu werden.

Auch ein Gespräch des Pflegepersonals bestätigt diesen Eindruck unserer Reporterin. „Das gehört leider dazu, manche Tage sind chaotisch, wenn kein Arzt auf Station ist. Alle im OP, nur ein PJler, aber der ist noch kein Arzt”, sagt eine Pflegerin, die Mitleid mit dem jungen Studenten hat. „Das heißt, der PJler macht trotzdem alles, was eigentlich ein Arzt machen würde?, fragt Undercover-Reporterin Lisa nach. Die Pflegerin bestätigt: „Er wurde delegiert. Er muss. Vielleicht für ihn auch überfordernd. Aber der muss.”

War also tatsächlich die Untersuchung durch einen Studenten für die Entlassung von Frau Reichenbach ausschlaggebend?

Die Charité schreibt dazu:
„PJ Studenten können keine Entlassung eigenständig vornehmen. Die Entlassung ist eine Teamentscheidung bestehend aus Ärzten und verantwortlichen Pflegekräften und dem Sozialdienst.”

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„Sie hätte auch einfach zu Hause still und heimlich sterben können”

Frau Reichenbach ist zum Glück rechtzeitig wieder aufgenommen worden. Dr. Bernd Hontschik, der eine eigene chirurgische Praxis führte und jahrelang Oberarzt an der Chirurgischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Frankfurt am Main war, zeigt sich schockiert, als das stern-Investigativ-Team ihm die Aufnahmen zeigt. „Sie hätte auch einfach zu Hause still und heimlich sterben können. Da hätte keiner was gewusst.”

Reporterin Lisa kümmert sich in ihrem Pflegepraktikum nun in den nächsten Tagen um Frau Reichenbach, der es deutlich besser zu gehen scheint. Mehrmals täglich besucht sie die alte Dame, die nicht allein aufstehen und auf Toilette gehen soll. Die Seniorin wirkt sehr wach und lebensfroh. Doch am Abend vor ihrer Entlassung ändert sich ihr Zustand. Beim Gang von der Toilette zurück zum Bett sackt Frau Reichenbach zusammen.

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„Stirbt die Frau gerade?”

Lisa sucht sofort Hilfe beim Pflegepersonal. Die erfahrene Schwester Birgit* zögert nicht lange und geht selbst zu Frau Reichenbach. Immerhin hatte die alte Dame vor einer Woche eine Hirnblutung. Nachdem sie den Zustand der Patientin überprüft hat, ruft sie den diensthabenden Arzt an. Es ist mittlerweile halb neun abends. Offiziell ist zu der Zeit der Bereitschaftsarzt zuständig. Schwester Birgit erreicht ihn über das Haustelefon im OP.

Auf ihre Bitte, nach der 80 Jahre alten Patienten zu sehen, fragt dieser: „Stirbt die Frau gerade?” Als Birgit verneint, sagt er: „Gut, dann später bitte noch einmal anrufen.” Obwohl die Schwester ihn bittet, nach seiner OP nach Frau Reichenbach zu sehen, scheint bis zum nächsten Morgen kein Arzt bei der Seniorin gewesen zu sein. Wie kann das sein?

Auch wenn die Schwestern selbst fassungslos zu sein scheinen, erklären sie Lisa, dass dies daran liege, dass die Ärzte nachts oft noch bis zwei oder drei Uhr nachts operieren. „Er [der Bereitschaftsarzt, Anmerk. d. Red.] ist dann der Einzige, der in der Nacht mit dem Oberarzt noch operiert und irgendwer muss ja dem Oberarzt assistieren.”

Ist eine OP mehr wert als eine leichte Diagnose?

Experte Dr. Bernd Hontschik erklärt: „Das ist eine Folge der Fallpauschalen. (...) Die Krankenhäuser bekommen ihr Geld nach Diagnosen. Schwere Diagnosen: viel Geld, leichte Diagnose: wenig Geld. Gespräch: null Geld. Schwierige Operationen: sehr viel Geld. Normale Operationen: normal Geld. So läuft das.“

Ist ein Patient mit einer leichteren Diagnose also weniger Zeit und Aufmerksamkeit wert? Die 80-jährige Frau Reichenbach wurde erst entlassen, obwohl es ihr noch nicht gut ging. Und als ein Arzt für sie gebraucht wird, findet das Pflegepersonal keinen, der Zeit hat. Wie kann das sein?

Könnte es Frau Reichenbach heute besser gehen?

Frau Reichenbach ist mittlerweile wieder zu Hause, komplett erholt hat sie sich jedoch noch nicht. Undercover-Reporterin Lisa fragt sich, ob es ihr jetzt besser gehen könnte, wenn das Ganze anders gelaufen wäre.

Das stern-Investigativ-Team hat die Charité hierzu um eine Stellungnahme gebeten. Sie weist alle Vorwürfe zurück.

stern Investigativ – Charité Berlin auf RTL+

Die ganze Reportage stern Investigativ: Charité Berlin seht ihr am Donnerstag, den 12. September um 20.15 Uhr bei RTL oder als Livestream auf RTL+. Nach der Ausstrahlung könnt ihr die Sendung auf RTL+ anschauen. (akr)

*Namen von der Redaktion geändert