Wo waren die Ärzte?

Eigentlich zählt jede Minute! Lebensbedrohliche Blutvergiftung über 24 Stunden lang nicht richtig behandelt?

Wer sowieso schon im Krankenhaus liegt, bekommt im Notfall schnell Hilfe. Oder nicht?
Joachim Meisner* liegt auf der neurochirurgischen Station der Charité Berlin. Er hat hohes Fieber, wirkt schwach, desorientiert, beim Wechsel seines Blasenkatheters ist auf einmal alles voller Blut. Die Symptome weisen auf eine Blutvergiftung hin, bei der jede Minute zählt. Doch das Personal scheint überfordert zu sein – über 24 Stunden lang. Warum stellt niemand die richtige Diagnose?

Medizinstudentin scheint Ernst der Lage nicht zu erkennen

Reporterin Lisa hat sich für stern Investigativ undercover als Pflegepraktikantin in die Station eingeschleust, auf der Herr Meisner seit drei Wochen liegt. Er hat seine OP nach einem Kopf-Abszess wohl gut überstanden, doch jetzt reagiert er teils nicht auf Fragen der Pflegerinnen, wirkt schwach und hat 39,6 Grad Fieber – obwohl er bereits fiebersenkende Medikamente bekommt. Zudem kann er trotz eines bereits gelegten Blasenkatheters nicht urinieren.

„Ich hole mal einen Arzt“, kündigt eine Pflegerin an. Doch sie findet auf ihrer Station nur eine PJlerin – eine Medizinstudentin im praktischen Jahr, die also noch keine ausgebildete Ärztin ist. Sie scheint den Ernst der Lage nicht zu erkennen.

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Auf einmal ist alles voller Blut

Das stern-Investigativ-Team zeigt die Aufnahmen Dr. Bernd Hontschik. Er führte eine eigene chirurgische Praxis, war jahrelang Oberarzt an der Chirurgischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Frankfurt am Main. Der Experte hat sofort die Vermutung, dass Herr Meisner an einer Blutvergiftung leiden könnte: „Das ist eine Katastrophe, was sich da abspielt. Der hat hohes Fieber, man weiß die Ursache nicht. Das ist eine Sepsis in der Regel. Eine Sepsis ist eine lebensbedrohliche Erkrankung. Da muss man sofort auf die Intensivstation.“

Mehrere junge Assistenzärzte kommen dazu, alle wirken unsicher. Eine Pflegerin ergreift schließlich die Initiative, Herr Meisners Katheter wird entfernt. Doch dabei tritt auf einmal blutiger Urin aus, und es hört nicht auf.

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Neuer Katheter erst nach stundenlangem Warten

Einer der Assistenzärzte versucht, telefonisch Unterstützung von einem Facharzt aus der Urologie anzufordern. Doch auch jetzt ist wieder keiner in Sicht. „Ich bin fassungslos. Das kann doch nicht in einem deutschen Krankenhaus aufgenommen worden sein,“ erklärt Dr. Hontschik. „Da muss dringend jemand her, der Durchblick hat. Und da ist ja weit und breit niemand.“

Erst nach mehreren Stunden setzt ein urologischer Facharzt Herr Meisner einen neuen Katheter. Die Ursache seiner Probleme wird jedoch nicht behandelt.

Hierzu schreibt die Charité, dass die Darstellung in jeder Hinsicht falsch sei. Und weiter: „Die fachübergreifende Behandlung von Patienten erfolgt nach einem klar definierten und eingehaltenen Vorgehen: Jede Abteilung hat einen Arzt vom Dienst (AvD), der rund um die Uhr erreichbar ist. Die Fälle werden nach dem Dringlichkeitsprinzip triagiert und versorgt.“

Werden Studenten mit den Patienten allein gelassen?

Am folgenden Tag hat Herr Meisner erneut rund 40 Grad Fieber. Sowohl seine Ehefrau als auch eine Stationsschwester äußern Lisa gegenüber ihre Sorge über seinen Zustand: „Welcher Arzt ist denn aktuell hier für uns zuständig? Schlimm, also manchmal ist es hier echt schlimm! Manchmal machst du ja auch als Pflegekraft gefühlt den Job als Arzt mit“, so die Pflegerin.

Lisa ist allein auf der Station mit dem Pflegepersonal und PJlern – die eigentlich hier sind, um unter Anleitung von Ärzten zu lernen. Doch laut einer Schwester sieht die Realität anders aus: „Weil die Ärzte ja nie hier auf Station sind.“ „Die sind alle im OP!“, ergänzt eine andere. – „Das musst du auch mal jemandem erzählen, dass hier nur die Studenten für uns zuständig sind.“

Weil die Ärzte mit Operationen beschäftigt sind, sind die Studenten allein? Dazu schreibt die Charité:

Die Behauptung, dass PJler (Praktische Jahr-Studenten) anstelle von Ärzten den Patienten untersucht haben, wird oft missverstanden. Es ist wichtig zu betonen, dass PJler unter direkter Aufsicht und Anleitung von erfahrenen Ärzten arbeiten.

„Das nennt man Organisationsversagen“

Erst nach über 24 Stunden kommt Herr Meisner schließlich auf die Intensivstation, wo endlich die Sepsis festgestellt und behandelt wird. Warum dauerte das trotz seiner gravierenden Symptome so lange?

Dr. Hontschik findet klare Worte: „Was mir ganz krass hier ins Auge springt, ist, dass kein Arzt da ist, auch wenn er gesucht wird, dass kein Arzt kommt. Stundenlang. Und das ist in der Verantwortung einer Klinikleitung. Das nennt man Organisationsversagen. Ganz einfach.“

Herr Meisner hat Glück: Er hat die Blutvergiftung überlebt. Mittlerweile ist er zu Hause, es geht es ihm wieder besser. Auf die Frage, ob die Sepsis hätte früher erkannt werden müssen und warum es so lange dauerte, bis sich ein Facharzt kümmerte, antwortet die Charité:

Wir weisen darauf hin, dass auf Grund der fehlenden Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht keine Stellung genommen werden kann... unsere Mandantin hat alle Fälle intensiv geprüft und weist die Vorwürfe zurück.

stern Investigativ – Charité Berlin auf RTL+

Die ganze Reportage stern Investigativ: Charité Berlin seht ihr am Donnerstag, den 12. September um 20.15 Uhr bei RTL oder als Livestream auf RTL+. Auch nach der Ausstrahlung könnt ihr die Sendung auf RTL+ nachschauen. (rka)

*Name redaktionell geändert