„Ich fühle, dass mein Vater mir glauben möchte. Er kann nur einfach nicht.“
Wenn dein eigener Vater dir nicht glaubt, dass gerade Krieg in der Ukraine ist

Der Krieg in der Ukraine findet nicht nur auf dem Schlachtfeld statt und verursacht unsagbares Leid, er reißt auch tiefe Gräben zwischen Menschen, die sich eigentlich nahe stehen sollten: Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, Familien. Das erlebt gerade auch der 33-jährige Restaurantbesitzer Misha Katsurin aus Kiew. Er musste seine Betriebe schließen, aus seinem Zuhause fliehen und seine Familie im Ausland in Sicherheit bringen. In dieser schweren Zeit kann er jedoch keine Unterstützung oder auch nur mutmachende Worte von seinem in Russland lebenden Vater erwarten – denn der glaubt nicht, dass gerade ein Krieg tobt.
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Misha Katsurin Vater glaubt nicht, dass es einen Krieg gibt
Wenige Tage nach dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine hatte Misha Katsurin immer noch nichts von seinem Vater in Russland gehört. „Das war schon ein bisschen seltsam, da er mein Vater ist und der Krieg gerade begonnen hatte“, erzählt Misha Katsurin im RTL-Interview. Also wird der Sohn selbst aktiv, ruft seinen Vater an, um ihm persönlich von den Schrecken, die er und seine Familie in den vergangenen Tagen erleben mussten, zu berichten. Doch sein Vater glaubt ihm nicht. „Er fing an zu streiten und er versuchte mir zu sagen, dass Russland in Wirklichkeit friedliche Operationen zur Rettung der Ukraine vor dem Nazi-Regime durchführt“, erinnert sich Katsurin an die Reaktion seines Vaters.
Sein Vater lebt in einer anderen Realität
Ein Schock für den Sohn. Er versucht seinen Vater davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagt: „Ich bin sein Sohn, ich bin hier und sehe es mit meinen eigenen Augen. Ich habe keinen Grund, ihn anzulügen. Seine Regierung, die hat aber solche Gründe, da sie erklären müssen, was sie da tun.“ Doch für Misha Katsurin Vater sieht die „Wahrheit“ ganz anders aus: Für ihn sind die russischen Truppen Helden, die die Welt retten würden – wie schon im Zweiten Weltkrieg. Von Morden am ukrainisches Volk will er nichts wissen. Stattdessen glaubt er, russische Soldaten würden warmes Essen und Kleidung an Zivilisten verteilen. Misha Katsurin wird klar: Sein Vater glaubt der russischen Propaganda mehr als den Worten seines eigenen Sohnes.
Misha Katsurin sieht seinen Vater als Opfer
Doch Misha Katsurin gibt nicht auf – er zeigt sogar Verständnis für seinen 58-jährigen Vater. Dieser lebe in einem kleinen Dorf und nutze kaum das Internet. Seine Informationen erhalte er ausschließlich aus den russischen Staatsmedien. Über zwanzig Jahre lang hätte die russische Propaganda Menschen wie ihn beeinflusst und einer Gehirnwäsche unterzogen. „Sie sind Opfer der russischen Aggression und sie sind Opfer der russischen Propaganda. Und wir müssen ihnen helfen, denn der Großteil von ihnen will uns glauben,“ erklärt er. Auch in Hinblick auf seinen Vater ist sich Misha Katsurin sicher: „Ich fühle, dass mein Vater mir glauben möchte. Er kann nur einfach nicht.“
Seine Erfahrung teilt er auf Instagram
Nach seinem ersten Telefonat mit seinem Vater teilt Misha Katsurin sein Erlebnis und seine Emotionen auf seinem Instagram-Account – und in den unzähligen Kommentaren, die er daraufhin erhält, wird schnell deutlich: Er ist nicht allein. „Mir wurde klar, dass nicht nur ich vor diesem Problem stehe. Es ist riesig!“
Laut seiner Schätzung leben mehr als elf Millionen Verwandte von Ukrainern in Russland – und viele seiner Landsleute sehen sich derzeit ebenfalls mit Angehörigen konfrontiert, die nicht glauben wollen, dass es einen Krieg gibt. Diesen Menschen wollte Misha Katsurin helfen: „Natürlich wäre es einfacher, den Kontakt abzubrechen, das Telefon auszuschalten und zu sagen ‘Ich habe keinen Vater oder keine Mutter mehr’. Das ist eine normale Reaktion, denn es ist verrückt und sehr hart zu verstehen, wenn du mit Menschen sprichst, die dir im Leben am nächsten stehen und ihnen erzählst, was vor sich geht, wie viel Angst wir haben – und sie glauben dir nicht.“ Statt genau das zu tun, rief Misha Katsurin eine Initiative ins Leben.
Mit Leitfaden und Screenshots gegen die Propaganda
‘Papa pover’ (zu Deutsch: ‘Papa, glaub mir’) heißt die gleichnamige Webseite zu der Initiative, die Misha Katsurin zusammen mit Freunden und Kollegen ins Leben gerufen hat. Gemeinsam mit Psychologen und professionellen Vermittlern haben sie eine Art Leitfaden entwickelt, wie man mit Angehörigen umgehen und sprechen kann, die einem nicht glauben wollen. Die Kernbotschaft: Streiten bringt euch nicht weiter, hört nicht auf, miteinander zu sprechen. „Wir sind wahrscheinlich der einzige Kanal, über den unsere Verwandten freie Informationen erhalten können. Also rufen wir sie immer wieder an und wir sagen ihnen die Wahrheit. Denn wenn sie die Wahrheit kennen, dann werden sie Putin nicht länger unterstützen“, glaubt der 33-Jährige.
Er selbst hat ebenfalls regelmäßig Kontakt zu seinem Vater. Ein zweites Telefonat hat er mithilfe seines Leitfadens geführt und Teile davon veröffentlicht. Doch er nutzt noch weitere Mittel, um seinen Vater von der Wahrheit zu überzeugen. „Ein sehr wichtiges Mittel für mich sind Screenshots. Ich schicke ihm welche von den Gesprächen mit meiner Mutter, meinen Freunden, die alle am eigenen Leib erleben, was gerade los ist. Und das sind die Dinge, bei denen du nicht sagen kannst, dass sie nicht wahr sind.“ So fange sein Vater langsam an, ihm zu glauben. Mittlerweile wisse er, dass es sich nicht um eine russische Militäroperation handle, sondern um Krieg. Und das fände er furchtbar. Gleichzeitig muss Misha Katsurin jedoch erkennen, dass sein Vater weiterhin unter dem Einfluss der russischen Propaganda steht.
Misha Katsurin engagiert sich weiter
Misha Katsurin ist klar, dass vor ihm und allen anderen Ukrainern, die Angehörige haben, die ihnen nicht glauben, ein weiter Weg liegt. Doch durch Gespräche und die Verbreitung der Wahrheit gebe es weiterhin Hoffnung. Er selbst hält sich mittlerweile in Ternopil in der Westukraine auf, seine Frau und die beiden Kinder hat er nach Ungarn in Sicherheit gebracht. Nur seine Mutter und Großmutter stecken im russisch besetzten Berdjansk fest – es ist ihm noch nicht gelungen, sie dort rauszuholen.
Seine vier Restaurants musste Misha Katsurin schließen, doch gekocht wird weiterhin. Verteilt werden die fast 1000 Mahlzeiten pro Tag an Zivilisten, Krankenhäuser und das Militär. Lange werde das Geld hierfür aber nicht mehr reichen, vielleicht einen Monat noch, schätzt der 33-Jährige. Was ihm jedoch nicht ausgeht, ist seine Hoffnung. Und für diese kämpft er – an vielen Fronten.